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„Ich war das hässliche Entlein des Technos“—Gui Boratto im Interview

Der brasilianische Meister des Emo-House spricht über Architektur, Kunst und darüber, wie sein neues Album ihm geholfen hat, den Blues seines dritten Albums zu überwinden.

Die Musik von Gui Boratto ist sehr facettenreich und reicht von farbenfrohen Songs wie „Beautiful Life" bis zu düsteren Techno-Krachern wie „The Drill", doch man findet immer eine besondere und borattische Herangehensweise an Melodie. Er hat kein Interesse an Standard-Techno—die Geschichte und die Emotion sind der Schlüssel, jedoch manifestiert durch Melodie.

Gui Boratto hat gerade sein neues Album Abaporu auf Kompakt veröffentlicht. Laut dem brasilianischen Produzenten ist dies sein bislang bestes Album. THUMP hat mit Boratto über Architektur, Mathematik, den Unterschied zwischen DJ und Produzent und seine Verwandlung vom hässlichen Entlein der Technoszene in den schönen Schwan des Emo-House gesprochen.

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THUMP: Du hast deine musikalische Karriere in lokalen Bands begonnen. Wie bist du bei elektronischer Musik gelandet?
Gui Boratto: Ich habe mit ungefähr acht oder neun angefangen, Gitarre und Klavier zu spielen. Mit vierzehn oder so wurde mir normale Rockmusik zu langweilig und ich habe angefangen, Bands zu hören, die Synthesizer benutzt haben und damit ebenfalls angefangen. Da ich Klavier spielen konnte, war ich an Tasten bereits gewöhnt. Es war nicht schwer, der Musik, die ich bereits mit meiner Band gemacht habe, ein paar Synthesizer und Samples hinzuzufügen. Mit der Zeit bin ich immer mehr in elektronische Musik reingerutscht, das war also ein natürlicher Prozess. Es gab keinen besonderen Moment, an dem ich beschlossen habe, Techno zu machen. Ich bin auch nicht wirklich ein Techno-Produzent. Ich bewege mich irgendwie zwischen verschiedenen Subgenres. Manchmal gehe ich mehr in Richtung Industrial und Techno, andere Male eher in Richtung House oder sogar Progressive.

Du bist also eine Art Tausendsassa. Du hast auch einen Abschluss in Architektur und Stadtplanung. Wie beeinflusst dich das als Musiker?
Alle meine Freunde aus der Universität waren in Bands oder haben Musik gemacht. Musik und Architektur sind sehr ähnlich. Es ist alles Mathematik. Mathematik kann sehr poetisch und schön sein. Und Musik besteht auch aus Zahlen. Das ist die Verbindung.

Dein drittes Album war wesentlich düsterer als deine früheren Sachen, aber Abaporu klingt wieder viel fröhlicher. Würdest du zustimmen und gab es einen Grund, warum III düsterer als der Rest war?
Bei meinem dritten Album war ich einer Rock'n'Roll-Phase. Ich war nicht besonders glücklich, als ich es gemacht habe. Aber ich mag verschiedene Stimmungen. Das Schöne bei einem Album ist, dass du verschiedene Emotionen abdecken kannst. Du kannst Alternativen ausprobieren, mit verschiedenen Elementen spielen. Du kannst an den Strand gehen, in den Wald, an den Fluss—alles innerhalb einer Stunde. Wenn du eine Single machst, dann hast du nur ein paar Minuten, um deine Nachricht zu verbreiten. Mein drittes Album ist mein persönlicher Favorit, da es viel komplexer ist als Chromophobia oder Take My Breath Away. Es ist, sowohl was die Komposition als auch die Technik und Produktion angeht, wahrscheinlich mein komplettestes Album. Ich weiß, dass es düster und introspektiv ist, es ist aber auch sehr kraftvoll. Das ist sehr natürlich passiert, aber es hätte nicht geklappt, wenn es mein erstes Album gewesen wäre. Als es raus kam hatte ich schon viele Fans, was mir erlaubt hat, diese Seite von Gui zu zeigen. Es hat sieben Jahre gedauert, zurück zu derselben Stimmung zu finden, in der ich 2006 war als ich Chromophobia gemacht habe. Das Album war viel einfacher zu machen, aber es klang auch sehr naiv.

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Warum?
Ich war zu der Zeit so etwas wie das hässliche Entlein der Technoszene, das ist der Grund, warum es anders klingt. Ich habe nicht in Clubs aufgelegt, ich habe nichts gemacht. Ich war ein Studio-Geek, ein Nerd, der überhaupt nicht Teil der Clubszene war. Obwohl das vielleicht das war, was mich vom Rest unterschieden hat und was die Leute angesprochen hat. Meine Musik hat sich mit der Zeit entwickelt und 2011 kam III raus. Es ist ein merkwürdiges Album, da es düster ist, aber auch voller Energie. Es hätte mehr Sinn ergeben, wenn Chanel sich für einen Track von Avicii oder David Guetta für ihre Modenschau entschieden hätten, aber stattdessen haben sie sich für Musik von meinem Album entschieden.

Du kannst dir all meine Alben zu verschiedenen Tageszeiten und in verschiedenen Situationen anhören. Das ist der Grund, warum ich wirklich gerne auf Indie- oder Popfestivals auftrete, bei denen du dir die Bühne nicht nur mit anderen DJs, sondern auch mit Rock- oder Pop-Acts teilst. Es ist toll, eine gemischte Fanbase und ein gemischtes Album zu haben. Ich mag es, wenn ein Album kreativ ist, wenn ein Produzent verschiedene Strukturen ausprobiert, verschiedene Kompositionen, die dich froh oder traurig machen. Kein langweiliger Techno, das mag ich nicht.

Kannst du uns erzählen, warum du dein Album Abaporu genannt hast? Das ist eine Referenz an ein Gemälde von Tarsila do Amaral, richtig?
Abaporu bedeutet „der Mensch, der menschliches Fleisch isst"—also im Prinzip Kannibalismus. In meinem Fall geht es nicht so sehr um Kannibalismus, sondern eher darum, verschiedene Einflüsse zu verschlingen. Genau wie sich Tarsila auf verschiedene europäische Einflüsse bezogen hat, die ihr vor 90 Jahren geholfen haben, ihre Konzepte zu entwickeln. Ich habe ebenfalls Einflüsse und Eindrücke gesammelt, da ich so viel gereist bin und viel Musik aus der ganzen Welt gehört habe. Deswegen heißt es Abaporu.

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Gleichzeitig war das eine tolle Möglichkeit einer Hommage an eine unserer wichtigsten Künstlerinnen. Das Foto auf dem Cover ist ebenfalls eine Referenz an Tarsila. Es ist aus meiner Sicht ein Update des ursprünglichen Abaporu. Weißt du, wir sammeln immer Einflüsse. Wenn du ein fremdes Land bereist und andere Dinge siehst, verändert das die Art wie du die Welt und dich selbst siehst.

Gibt es besondere Elemente deiner eigenen Kultur, die du in deiner Musik nutzt?
Wir haben in Brasilien so viel verschiedene Musikgenres. Im Norden hören die Leute hauptsächlich Karnevalsmusik, im Süden viel elektronische Musik und in der Mitte dreht sich alles um Country. Wir haben auch eine Geschichte des Bossa Nova, was mein Favorit ist und wahrscheinlich das einflussreichste Genre der brasilianischen Musik und Kultur. Aber es gibt in meiner Musik auch Einflüsse aus den 80ern. Get The Party Started wurde von der Band Imagination beeinflusst.

Dein größter Hit „Beautiful Life" hatte Gesang. Wie wichtig ist Gesang für dich?
Gesang kann wie jedes Instrument eine Melodie ausmachen oder zerstören. Die Melodie ist für mich wichtiger als der Text, da die Musik die Kraft hat, dich ohne einen bestimmten Grund froh oder traurig zu machen, nur aufgrund der Noten. Die Leute mögen Gesang, aber für mich ist es kein Muss. Normalerweise mache ich pro Album nur ein oder zwei Tracks mit Gesang. Aber ich denke, dass aufgrund meines Pop-Backgrounds sogar meine Instrumental-Tracks die Struktur eines Popsongs haben.

Glaubst du, dass dein neues Album so groß wird wie Chromophobia?
Ich denke, Abaporu ist mein bestes Album. Michael Mayer hat mir das vor kurzem auch gesagt. Es passt alles zusammen: das Cover, der Inhalt. Ich denke es wird sich ganz gut machen. Ich habe so viel Liebe da rein gesteckt. Die Leute fühlen, wenn in etwas viel Liebe steckt und du ehrlich bist und nicht versuchst, andere Leute zu imitieren.

Abaporu ist bei Kompakt erschienen und über iTunes erhältlich.