Alligator-Ringen, Sumpfboote und Kitsch: Florida-Tourismus im Schatten der großen Themenparks

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THE LOOKING GLASS ISSUE

Alligator-Ringen, Sumpfboote und Kitsch: Florida-Tourismus im Schatten der großen Themenparks

Neben Disney, SeaWorld und Universal gibt es auch viele kleine Betriebe, die Besucher mit der natürlichen Schönheit des Sunshine State locken. Oder eben mit Echsen-Ringkämpfen.

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Schon in den 1890ern konnten Reisende auf ihrem Weg durch Florida für ein paar Cent privat gehaltene Alligatoren bestaunen. Damals lockten allein die einzigartige Natur und das warme Klima Touristen an. In den 1950ern waren es familienbetriebene Attraktionen wie Floridaland mit seinen Delfin- und Westernshows, das Aquarium, die Alligatorenfarm Gatorama und Ocean World. Doch in den 1970ern verschwanden viele dieser Sehenswürdigkeiten mit ihren kitschig-bunten Hinweisschildern und schillernden Betreibern. Disneys Magic Kingdom und seine Ableger verdrängten die Wunder der Natur mit Achterbahnen und klimatisierten Räumen, und die Touristenmagnete am Straßenrand verschwanden schneller als Eiscreme im Hochsommer.

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"Disney hat den Familienunternehmen abseits der Interstate Highways geschadet", sagt Dr. Gary Mormino, Historiker und Autor von Land of Sunshine, State of Dreams: A Social History of Modern Florida. "Früher ließen sich die Leute Zeit und machten an den Alligatorenfarmen entlang der Landstraßen halt. Heute fliegen sie nach Orlando und nehmen die Interstate."

Ein paar Attraktionen haben aber überlebt. Denn einige Touristen kommen gerade wegen des Retro-Charmes oder versprechen sich beim Ökotourismus "authentische" Erfahrungen. Und Alligatoren sind nach wie vor Publikumsmagnete.

Paul Bedard, der Inhaber von Gator Boys Alligator Rescue, bei einem seiner Stunts

Bei Sturm und Schnee verlasse ich an einem Februarwochenende den Norden in Richtung Südflorida und gehe im Everglades Holiday Park auf Sumpfboot­tour. Auf der Fahrt durch die künstlichen Kanäle zeigt uns der Bootsführer die örtliche Tierwelt. Während er monogame Vogelarten mit spannenden Namen wie "Purpurhuhn" beschreibt, döse ich langsam weg. Es ist friedlich hier im floridianischen Marschland.

Plötzlich taucht direkt neben dem Boot ein Alligator auf und ich schrecke hoch. Mein Nebenmann hält dem anderthalb Meter langen Weibchen namens Bubbette sofort sein iPhone vor die Nase. Bubbette hieß früher Bubba, bis jemand Zeuge wurde, wie sie mit einem etwa drei Meter langen Männchen flirtete. Kameras klicken aufgeregt, Filme und Speicherkarten werden mit Alligatorenfotos gefüllt. Dann heulen die Motoren auf und das 750-PS-Boot schüttelt uns wieder ordentlich durch.

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"Heutzutage schauen wir ständig auf unsere Smartphones oder iPads. Ein ziemlich beschränkter Blick", findet Clint Bridges. Der 41-Jährige leitet den Everglades Holiday Park in zweiter Generation. "Aber authentische Erlebnisse gibt es nur in der echten Welt."

Die bietet der Park seinen Gästen mit einer Bootstour inklusive Alligatorenshow für 29,50 Dollar. Eröffnet wurde er, als die Ära der Familienbetriebe gerade zu Ende ging. Bridges war damals ein Kind und lebte unweit von hier in einem Haus, das sein Vater aus Baustellenresten gebaut hatte. 1982 belastete die Familie es mit einer Hypothek und pachtete das etwa 12 Hektar große Parkgelände. Bridges sagt, er sei praktisch auf einem Sumpfboot groß geworden und habe schon mit Alligatoren gerungen, bevor er Rad fahren konnte. Später sorgte er dafür, dass der Familienbetrieb im Ökotourismus Fuß fassen konnte.

Im vergangenen Jahr buchten über 300.000 Gäste Bootstouren im Everglades Holiday Park. "Dank des Ökotourismus", so Bridges, "begeistern sich die Menschen für die Everglades – was wiederum zum Schutz dieses Ökosystems beiträgt."

Auf Bootstouren durch den Everglades Holiday Park beobachten Ökotouristen Alligatoren und erfahren etwas über die Tierwelt

Auch neun Kadetten der Massachusetts Maritime Academy verbringen hier einen ihrer drei dienstfreien Tage an Land. Sie hätten sich die Tour durch die Everglades "ziemlich abenteuerlich" vorgestellt, außerdem wäre ein Trip weiter in den Süden nach Miami "viel zu teuer" gewesen. Dean Cross aus Arizona, ein Rentner in den Siebzigern, ist zum ersten Mal in Florida. Die Everglades standen auf seiner Liste ganz oben. "Wenn ich wegfahre, recherchiere ich zuerst im Internet", erzählt Cross, "und bei Südflorida ist überall nur von den Everglades die Rede."

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Wieder an Land schauen wir Ökotouristen uns von einer Tribüne aus einen weiteren Klassiker an: Alligator-Ringen.

16 Alligatoren liegen neben- und aufeinander in einem kleinen Bassin. Paul Bedard, Inhaber der zum Everglades Holiday Park gehörenden Gator Boys Alligator Rescue, packt ein Tier beim Schwanz und spricht zum Publikum.

Bedard ist nicht nur einer der Stars der Reality-Serie Gator Boys auf dem Sender Animal Planet, sondern auch einer der wenigen engagierten Trapper, die Alligatoren lebend fangen. Er sucht ihnen ein neues Zuhause und tritt mit einigen im Park auf. "Schwitzkästen und Bodyslams gibt es hier keine", erklärt er den Zuschauern. "Beim Alligator-Ringen werden die alten Fangtechniken der Seminolen mit ein paar Tricks nachgestellt."


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In Florida ist es eine Straftat, Alligatoren ohne staatliche Genehmigung zu töten. 20 Jahre lang standen Amerikas Alligatoren auf der Liste der gefährdeten Arten, weil sie bejagt wurden. Ende der 1980er stabilisierte sich die Population wieder, heute wird sie auf 1,3 Millionen geschätzt. Zum Vergleich: Florida hat etwa 20 Millionen Einwohner.

Während Bedard ein Alligatorenmaul mit seinem Kinn aufstemmt, ringt am anderen Ende der Stadt Billy Walker ebenfalls mit einem der Reptile. In der Hard-Rock-Live-Arena findet gerade das "Seminole Tribal Fair and Pow Wow"-Wochenende statt.

Mitte des 19. Jahrhunderts vertrieb die US-Regierung Seminolen und Miccosukee in die als unbewohnbar geltenden Everglades, wo später auch Reservate entstanden. Sie überlebten in der neuen Umgebung, indem sie Alligatoren jagten und aßen. Heute sind die Reservate selbst auch Touristenattraktionen. Ich verlasse den Everglades Holiday Park und treffe mich mit Walker. Er erklärt mir, die Alligatorenkämpfe würden auf sein Volk, "die Seminole-Miccosukee", zurückgehen. Walker kam in den 1980ern nach einer Jagd zufällig zum Alligator-Ringen. Als er mit einem bewusstlosen Alligator über der Schulter nach Hause marschierte, überredete ihn seine Schwester, den anwesenden Touristen ein paar Tricks vorzuführen, worauf sie ihn "mit Geld überschütteten".

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Auch heute noch fängt Walker Alligatoren für traditionelle Shows im Big-Cypress-Reservat. Er sieht in diesen Darbietungen eine Möglichkeit, die Traditionen seines Stamms, des Seminole Tribe of Florida, zu bewahren.

Billy Walker, hier mit seiner Tochter, gehört zum Seminole Tribe of Florida. Die Seminolen kamen mit Alligatoren in Berührung, als sie Mitte des 19. Jahrhunderts in die Everglades vertrieben wurden

Zwischen der Geschichte der Everglades und Orlandos Glitzerwelt mit kostümierten Darstellern und Fahrgeschäften scheinen Welten zu liegen. Und doch trennen sie nur wenige Autostunden auf dem Florida's Turnpike. Zudem verbindet sie ein Fluss: Viele bezeichnen die Everglades als einen Sumpf, aber tatsächlich ist das von der Everglades-Schützerin Marjory Stoneman Douglas geprägte Bild eines "River of Grass" zutreffender. Das Quellgebiet dieses Grasflusses liegt im Süden Orlandos. Diese Region war einst für Rinderzucht und den Anbau von Zitrusfrüchten bekannt und ist heute ein beliebtes Reiseziel. So zählte Orlando 2015 etwa 66 Millionen Besucher, und im letzten Jahr war Disneys Magic Kingdom der am häufigsten auf Instagram getaggte Ort in Florida.

"Kaum zu glauben, dass Orlando noch vor 60 Jahren eine unbedeutende Kleinstadt an einer Straßenkreuzung war", sagt Mormino. "Heute gibt es hier durch den Tourismus Zehntausende Hotelzimmer und zahllose Fast-Food-Ketten."

Inmitten dieses kommerziellen Gedränges liegt das 45 Hektar große Gatorland.

1949 eröffnete ein Einheimischer namens Owen Godwin den Park. Sein Eingangstor in Form eines riesigen Alligatorenmauls gehört nach wie vor zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten mit traditionellem Flair. Doch Gatorland verdankt sein Überleben auch der Nähe zu den Disney-Themenparks.

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Um mit den immer neuen Attraktionen großer Konkurrenten wie Disney World und Universal Studios mithalten zu können, hat Gatorland die "Screamin' Gator Zip Line" gebaut. Der Seilrutschen-Parcours lässt Besucher über die Köpfe der Alligatoren hinwegrauschen und hat sich landesweit einen Namen gemacht.

Das mächtige Alligatorenmaul vor dem Gatorland setzt der namensgebenden Spezies des Parks ein Denkmal und ist typischer Florida-Kitsch

"Die Leute kommen nicht wegen Gatorland nach Orlando und schauen dann noch bei Disney rein", sagt Tim Williams, den der Park als seinen "Dekan für Alligator-Ringen" bezeichnet. "Gott sei Dank sind Disney, Universal und SeaWorld nicht weit. Für uns sind sie wie große Brüder und Schwestern." Außerhalb der Parks verlaufen Begegnungen mit Alligatoren nicht immer harmonisch. Deutlich wurde diese bittere Wahrheit zuletzt, als vor einem Jahr ein wilder Alligator einen zweijährigen Jungen tötete, der an einem See in einem Disney-Resort spielte. "Eine Tragödie", sagt Williams.

Gatorland setzt zwar mehr auf die Themenparkbesucher und weniger auf Ökotouristen, aber die Shows im Park informieren über die Tiere und ihren Lebensraum. Doch es gibt nicht nur Fans. PETA beschrieb Gatorland, das 1.800 Alligatoren beherbergt, einst als "für seine Grausamkeit berüchtigt".

Die vielen Alligatoren in Gefangenschaft wirken so surreal, dass manche Zuschauer sogar glauben, sie seien animatronisch. Nach der Show posiere ich für ein Foto auf dem Rücken eines Alligators. Ich berühre seine rauen Schuppen und spüre seinen langsamen Atem. Ich kann bestätigen, dass die Tiere vollkommen echt sind.

Floridas Landschaft verändert sich ständig und damit auch seine Tourismusbranche. Noch kann man in Weeki Wachee Springs "Meerjungfrauen" bewundern, im Monkey Jungle in Miami auf Safari gehen oder im Gatorama nach Fossilien graben. Die kleinen Straßenrandattraktionen von damals mag es nicht mehr geben, doch Teile dieser Welt überleben bis heute und könnten sich erholen – ganz wie die Alligatorenpopulation.

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