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Kommentar

Hört auf, die Grünen zu wählen

Dadurch wird nichts besser.
Robert Habeck und Annalena Baerbock sind seit Januar Bundesvorsitzende der Grünen
Die neuen Grünen-Vorsitzenden Habeck und Baerbock feiern ihre Wahl | Foto: imago | Sven Simon

Die Grünen zu wählen, ist neuer Trendsport. Leider betreiben ihn die Deutschen genauso wie Hot-Yoga, Kreisliga-Fußball und Sportschnupfen: ohne Rücksicht auf Verluste.

Bei der Landtagswahl in Hessen haben die Grünen 19,8 Prozent geholt. Laut dem vorläufigen amtlichen Ergebnis liegen sie sogar 98 Stimmen vor der SPD und haben sich im Vergleich zur Wahl 2013 fast verdoppelt. In hessischen Großstädten wurden sie klar stärkste Partei. In einer Koalition mit der CDU würden sie nun noch stärker dastehen als vorher. Der Hype um die Partei dürfte nach dieser Wahl nicht abklingen.

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In Bayern sind sie mit 17,5 Prozent ebenfalls zweitstärkste Kraft geworden, Spitzenpolitiker setzten auf der Wahlparty spontan zum Stagediving an. Fünf Wahlforschungsinstitute sehen die Partei derzeit in ganz Deutschland als CDU-Verfolgerin Nummer eins. Fast jede(r) zweite Deutsche kann sich vorstellen, die Grünen zu wählen. Gerade junge Menschen tendieren stark zu ihnen und alle mit einem Studienabschluss – und sei es auch nur ein Bachelor in VWL.

Was Menschen zu den Grünen treibt

Nach Hitzesommer, anhaltender Dürre, Trump im Weißen Haus und AfD im Bundestag, #unteilbar, #wirsindmehr und #hambibleibt scheint es viele Gründe geben, seine Stimme den Grünen zu verschreiben:

1. Weil man lieber von vergleichsweise jungen, vergleichsweise smarten und vergleichsweise diversen Politikern und Politikerinnen vertreten werden möchte als von überwiegend alten, weißen Männern; die neuen Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck sehen dagegen eher aus wie zwei H&M-Models, von denen man sich sofort ein Gespräch verwickeln ließe, säßen sie einem im ICE-Vierer gegenüber.

2. Weil man die AfD hasst – und die wiederum hasst niemanden so sehr wie die Grünen ("Links-grün versifft!"). Und weil sich Baerbock und Habeck populistische Stolperversuche à la Seehofer, Lindner, Wagenknecht und Nahles sparen. Aus einer Partei, über die sich TV-Magazine jahrelang lustig gemacht haben, ist die Stimme der Vernunft geworden.

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3. Weil man die Umwelt retten und damit die Chance erhöhen möchte, dass man selbst und die eigenen Kinder halbwegs glücklich und gesund alt werden. Neuerdings retten die Grünen auch deutsche Traditionen. So schaffen sie es, SUV-Fahrerinnen, Backpack-Bali-Touristen und Öko-Bauern in Lederhose gleichermaßen ein gutes Gefühl mit ihrer Wahl zu geben.

Es gibt schlimmere Gründe, eine Partei zu wählen. (Weil man es einfach immer schon so gemacht hat oder weil man Rassist ist oder weil man gerne anderen seinen Glauben aufzwingen möchte, wären solche.) Warum es aber nur bedingt gute Gründe sind, um sich für die heutigen Grünen zu entscheiden, steht im neuen Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (PDF), in Deutschland eher bekannt als "Weltklimarat".

Warum wir an Cuxhaven denken sollten

Ungefähr 1° Celsius beträgt die menschengemachte Erderwärmung dem Bericht zufolge bereits. Die Autoren und Autorinnen des Berichts halten es für sehr wahrscheinlich, dass sie zwischen 2030 and 2052 die Grenze von 1,5° Celsius überschreitet. Und bald danach die von 2° Celsius.

Millionenstädte wie Shanghai und Hongkong drohen, überschwemmt zu werden. Auch New York. Manhattan werde man in den nächsten 30 Jahren in jedem Fall mit Deichen schützen, ließ das New York Magazine seine Leser kürzlich wissen. Große Teile von Queens und Brooklyn würden ungeschützt von einer Sturmflut nach der anderen begraben.

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In Deutschland wird es nicht ganz so schlimm. Hier erwischt es in den nächsten Jahrzehnten am ehesten Cuxhaven. Und, wenn die ausgebauten Deiche nicht halten, den dahinter liegenden Lebensraum von 3 Millionen Menschen und mindestens ebenso vielen Schafen.* Anders gesagt: Natürlich wird es schlimm.

Das vermeintliche Musterland Deutschland liegt obendrein weit hinter seinen eigenen Klimaschutzzielen. Und was machen die Grünen, die Klimaschutz-Partei schlechthin? Bekommen das selbst nicht so richtig auf die Hollandrad-Kette.

Zwei Beispiele:

1. Die Fahrverbote für Diesel-Autos in Hamburg und Stuttgart (nur an Feinstaubalarm-Tagen) haben Grüne eingeführt – allerdings nur für einzelne Straßen. Die Fahrenden nehmen längere Umwege in Kauf, der Ausstoß sinkt nicht, er steigt.

2. Vor zwei Jahren gab die damalige rot-grüne Regierung von NRW dem Energiekonzern RWE das politische OK, im Tagebau Hambach weitergraben zu dürfen. 2018 organisierten die Grünen Demo-Reisen in den deshalb vor der Abholzung stehenden letzten Rest des Hambacher Forsts.

Jetzt könnte man sagen: "Die Grünen, die sind nur konsequent in der Opposition", aber auch das stimmt nicht. Im Juni bot die grüne Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, Angela Merkel an, die Grünen könnten die CSU ersetzen, die Kanzlerin könne konstruktiv weiterregieren, Bedingungen gebe es praktisch keine.

Dieselbe Merkel, die in fast 13 Jahren Regierungszeit die Digitalisierung verschlafen hat, die die Schere zwischen Arm und Reich rasant weiter aufgehen lassen hat, die – nachdem sie sich jahrelang das Etikett "Klimakanzlerin" anstecken ließ – Deutschland zuletzt in Sachen Klimaschutz zurückfallen lassen hat.

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Wohin die Grünen wollen

Ob Grün-Schwarz, Schwarz-Grün, Schwarz-Rot-Grün, Rot-Grün, Rot-Rot-Grün (sowohl unter SPD- als auch unter linker Führung), Rot-Gelb-Grün: Die Grünen sind derzeit in der Theorie die anschlussfähigste Partei Deutschlands, das Kind, das im Sportunterricht als Erstes gewählt wird. Nur dass dieses Kind sich förmlich aufdrängt. Oder, wie Robert Habeck sagt: "Wir haben die Aufgabe, ins Zentrum der Demokratie zu rücken."

Doch da ist die Partei längst. In mehr als der Hälfte aller Bundesländer sitzen die Grünen als Koalitionspartnerin in der Regierung, mit Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg stellen sie einen Ministerpräsidenten. Es fällt auf den ersten Blick schwer, die grün-regierten Bundesländer von den nicht-grün-regierten zu unterscheiden. Auf den zweiten auch.

Anders als die Kolleginnen und Kollegen in Bayern und Baden-Württemberg haben die hessischen Grünen sich im Wahlkampf vor allem über Themen wie die Verkehrswende, natürliche Landwirtschaft und saubere Energie gedreht. Bei Winfried Kretschmann sah das vor zwei Jahren anders aus: Als der sich in einem Wahlspot an die heimische Werkbank setzte und loshobelte, ging es zuerst um schwäbische Heimeligkeit, dann um die Wirtschaft und erst danach um die Energiewende.

Und auf kommunaler Ebene hat man einen Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister von Tübingen, der bei vielen Themen ungefähr so grün ist wie ein Kohlebrikett und sich mal mit vermeintlich satirischen, mal mit rassistisch-anklingenden Facebook-Posts relativ unverhohlen als Blogger bei der Welt oder Tichys Einblick andient. Und in Bayern waren die Grünen sichtbar enttäuscht, nicht mit Söder von der CSU regieren zu dürfen. Jenem Söder, den sie zuvor bei jeder Gelegenheit als reaktionär beschimpften.

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Angeschwärzte Grüne? Das wollen die Bundesgrünen mit den 20 Prozent-Werten nicht auf sich sitzen lassen. Bis 2020 soll man sich ein neues Grundsatzprogramm gegeben haben. Schon zeichnet sich ab, was drinstehen dürfte: Führende Köpfe wollen Hartz IV sanktionsfrei machen – sprich: abschaffen –, den Mindestlohn anheben, US-amerikanische Atomwaffen aus Deutschland verbannen und Facebook und Google zerschlagen. Und nebenbei noch den Begriff der Heimat neu besetzen.

Bis dahin soll gelten, was Annalena Baerbock gerade der Zeit gesagt hat: "Regieren ist radikal."

Allein, all das ist nicht radikal genug.

Welche Partei wir brauchen

Wir brauchen eine Partei, die uns klipp und klar sagt, dass auch Räucherlachs aus Aquakulturen und Bio-Burger kein cleanes Superfood sind, und dass es nicht reicht, den Freundinnen den Trip nach Bali auszureden, weil die Chancen auf Selbstfindung im Harz ähnlich hoch sind.

Eine Partei, die uns Umweltschutz nicht als Feelgood-Maßnahme und Heimatschutz an der Hobelbank verkauft, sondern als Generationenaufgabe. Die ihre Konzepte für einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs – sowohl auf dem Land als auch in der Stadt – ebenso dringlich in die Debatte einbringt wie die Forderung, eben diesen Nahverkehr kostenfrei zu machen.

Eine Partei, die erklärt, wie wir das mit der Erderwärmung eigentlich europaweit lösen wollen, wenn selbst der Weltklimarat in seinen Berechnungen davon ausgeht, dass man nur mit einem Ausbau – nicht Abschalten – der Kernenergie den Verbrauch fossiler Brennstoffe schnell genug reduzieren kann. Und warum das dennoch eine dumme, gefährliche Idee wäre, weil die Atommeiler und die Endlager für radioaktive Hinterlassenschaften bis dahin kaum sicherer werden.

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Eine Partei, die betrügerische, die Umwelt vergiftende Automobilbauer nicht in Schutz nimmt, nur weil deren Firmensitz nunmal im eigenen Bundesland liegt. Die aber auch Konzepte hat, wie Energiewende und CO2-Reduzierung nicht nur Tausende Arbeitsplätze bedrohen, sondern auch neue schaffen. Die Fonds anlegen lässt für Ernteausfälle, Klimaschäden und die Integration Tausender neuer Klimaflüchtender. Die eben doch durch und durch den Anspruch hat, Volkspartei zu sein. Mit der doch noch was zu retten wäre.

Der bisherige Widerspruch von Radikalität und Volkspartei muss vereint werden. Eine Volkspartei kann nur eine solche Partei sein, die sich radikal um die Zukunft der Gesellschaft kümmert.

Radikaler sein und gleichzeitig Volkspartei werden – das mag wie ein Widerspruch klingen. Vor der letzten Bundestagswahl drückten die Diskussionen um grüne Forderungen nach einer Vermögenssteuer und einem "Veggie Day" die Partei binnen weniger Monate von 14 Prozent in den Umfragen auf 8,9 Prozent am Wahlabend. Im rechten Lager werden sie das Stigma der "Verbotspartei" nie loswerden. Das darf sie aber nicht groß kümmern.

Im Ausland hat der Bericht des Weltklimarats viele Menschen aufgeschreckt, in Deutschland hat er hingegen kaum jemanden überrascht. Viele Leute ahnen, was auf uns zukommt. Umso wichtiger ist es, dass die erklärte große Umweltschutzpartei sich nun keiner Feelgood-Politik verschreibt. Die Grünen müssen den Leuten klarmachen, dass dieses Land ohne Einschnitte Jahr für Jahr weniger lebenswert wird.

Der bisherige Widerspruch von Radikalität und Partei aller Schichten muss aufgelöst werden. Angesichts der Erwartungen an die nächsten Jahrzehnte kann eine Volkspartei nur eine solche Partei sein, die sich radikal um die Zukunft der Gesellschaft kümmert. Und das sind die Grünen nicht. Solange das so ist, könnt ihr auch (fast) jede andere Partei wählen.

*Laut dem Niedersächsischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz gibt es in dem Bundesland rund 235.000 Schafe. Klingt natürlich nur halb so dramatisch.

Anm. d. Redaktion: Wir den Artikel an der Stelle, wo er das aktuelle Wahlergebnis erwähnt, fortlaufend aktualisiert.

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