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Meinung

Das Karriereende von Ten Walls hat einen bitteren Nachgeschmack

Die elektronische Musikszene ist so solidarisch wie radikal.

Am Montag ist in der elektronischen Musikwelt etwas passiert, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss—oder erst einmal verdauen, wie man's nimmt. So oder so war es das schnellste unfreiwillige Karriereende, das die Musikindustrie je gesehen hat, und das löst genauso viel Beklemmung aus, wie jetzt stolz geschwellte Brüste zu sehen sind.

Ten Walls (bürgerlich: Marijus Adomaitis), der ein sehr homophoben und menschenverachtenden Facebookpost veröffentlichte, bekam dafür am Montag innerhalb weniger Stunden negative Reaktionen seiner Kollegen, Absagen von so ziemlich jedem Festival, das ihn gebucht hatte, sowie eine Kündigung seiner Bookingagentur. Kurze Zeit später sagte er den Rest selbst ab und seine Karriere war erst einmal passé.

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Die Chronologie könnt ihr hier nachlesen

Es ist schon erstaunlich, wie solidarisch und gleichzeitig radikal eine Szene reagieren kann und was für eine Kettenreaktion daraus entsteht. Nach den ersten Festival-Absagen und unzähligen Twitter-Rants kam so gut wie jeder, der im Entferntesten etwas mit dem Produzenten aus Litauen zu tun hatte, in Zugzwang und musste handeln. Bestimmt hätten ein paar der Festivals anders reagiert, wenn die Wut des Internets und der Szene sie nicht mit einer solchen Gewalt überrollt hätte. Es gibt heutzutage nicht mehr viele Shitstorms, die tatsächlich so eine Macht haben.

Denn eigentlich wird in solchen Situationen erst einmal auf ein Statement gewartet. Man lässt den Angeklagten zu Wort kommen. Vermutlich hätte es nichts gegeben, was seine extremen Äußerungen gemildert hätte, schließlich beeindruckt es den Richter auch nicht, wenn jemand sagt, er habe sich eben gerade nach einem Mord gefühlt, aber normalerweise hat er da nicht so Lust drauf. Dennoch gehört das zum Prozess. Und es ist schon etwas beängstigend, wie schnell eine jahrelang aufgebaute Karriere ruiniert werden kann.

Zu dieser Ten Walls Geschichte ist eigentlich alles schon gesagt worden, mir fehlte nur das passende Bild http://t.co/MHYcS0xxOM

— Tanith (@tanith) 9. Juni 2015

Wir möchten Ten Walls nicht in Schutz nehmen (er scheint schlicht ein homophober Idiot zu sein, den noch nie jemand mochte), aber wir möchten die Wucht dieser Reaktion hinterfragen. Einige Stimmen, die auch etwas überrumpelt waren von den Ereignissen, wiesen immer wieder auf Adomaitis' Meinungsfreiheit hin und versuchten so, das flaue Gefühl in ihrem Magen zu erklären. Das ist aber Quatsch. Natürlich herrscht Meinungsfreiheit, deswegen hatte Ten Walls ja die Möglichkeit, seine dumme Meinung in die Welt zu emitieren. Wenn aber alle anderen eine andere Meinung haben, dürfen sie diese eben auch kundtun.

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Es sind mehrere Faktoren, die hier ineinander spielen. Zum einen hat Ten Walls ein Thema angesprochen, das in seiner Szene als komplett intolerabel gilt: Housemusik hat seine Wurzeln in der Schwulenszene, und beide Szenen haben sich seit den 80er-Jahren immer wieder gegenseitig befruchtet. Ohne die Schwulenszene gäbe Dance-Musik und Clubkultur in dieser Form überhaupt nicht, jeder in dieser Szene weiß das (mit Ausnahme von Ten Walls). Wenn dagegen ein Rapper etwas Homophobes sagt, ein männlicher Popstar wie Robin Thicke frauenverachtende Lieder singt oder eine Black Metal-Band eine rassistische Ästhetik hat, verziehen ein paar Leute ihre Mundwinkel, aber das war's dann auch schon. Solche Dinge passieren leider ständig, aber die Reaktion sind selten so extrem, weil diese Dinge jeweils Publikum und Kollegen nicht derart ins Herz treffen wie die Diffamierung von Homosexuellen die elektronische Musikszene. Das macht solche Äußerungen in anderen Szenen nicht okay, ist aber einer der Gründe, warum der Aufprall in diesem Fall so schnell kam.

Abgesehen davon scheinen die Künstler der elektronischen Musikszene gern ihre Meinung kundzutun und haben auch kein Problem damit, zu sagen, wenn sie etwas nicht in Ordnung finden. Durch die schnellen Äußerungen auf ihren Plattformen (im Internet) entsteht dann eben auch ein schneller Wirbel.

Es ist mehr als positiv, dass die elektronische Musikszene homophobe Äußerungen so konsequent ablehnt, aber diese Toleranz birgt manchmal eben auch eine große Intoleranz. Zum Beispiel gegenüber jemanden, der in welchem Zustand auch immer etwas Dummes getan hat. Die zu extreme Bekämpfung von etwas Falschem kann selbst extremistische Züge annehmen; wie bei dem Gutmenschen, der jeden anderen verurteilt, der nicht selbst vegan lebt; wie beim Kampf gegen radikale Terroristen, im Zuge dessen aber die Freiheit von jedem einzelnen Bürger eingeschränkt werden muss. Ist es in Ordnung, einen Menschen (denn das ist Ten Walls noch immer) so radikal anzuprangern und ihm jede mögliche Chance auf eine Karriere zu nehmen?

Was der ganzen Geschichte außerdem einen seltsamen Beigeschmack gibt, ist die Tatsache, dass andere Künstler wie beispielsweise R.Kelly, der in 14 Punkten wegen eines Tapes angeklagt wurde, das ihn anscheinend beim Sex mit einer Minderjährigen zeigt, noch immer zur Weltriege der Popstars gehört. Warum wurde seine Karriere nicht mit einem Shitstorm zerstört? Egal wie stark sich der ein oder andere wünscht, dass das Gleiche wie Ten Walls auch R.Kelly passiert—denn er hat es nicht anders verdient—sollte so eine Entwicklung nicht wünschenswert sein, da es das genaue Gegenteil von einer toleranten Einstellung ist. Natürlich wollen wir nicht von Terroristen umgebracht werden, aber wollen wir deshalb eine Institution haben, die alle mutmaßlichen Terroristen innerhalb weniger Stunden vernichten kann?

Nicht zuletzt stellt sich auch die Frage, wie sehr der Künstler anhand des Privatmenschen, der dahinter steht, bewertet werden sollte. Ten Walls' Musik ist nicht schlechter geworden und auch R. Kelly wird noch leidenschaftlich gern gehört. Allerdings kannst du einen Menschen nicht vollständig von seiner Kunst trennen, auch wenn du seine Kunst liebst. Denn ein Künstler ist gleichzeitig eine öffentliche Person. Wenn jemand nicht will, dass seine Kunst von der eigenen Einstellung oder Dummheit beeinflusst wird, dann soll er gefälligst Daft Punk sein. Die Szene hat also alles richtig gemacht, aber jetzt können wir auch mal wieder runterkommen.