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Festivals

Höher, größer, schlimmer—in München prostituieren sich jetzt auch die Open Air-Veranstalter

Da sich in München nichts schneller verbreitet als der Erfolg des Anderen, mehrten sich bis zum (hoffentlichen) Peak im diesjährigen Sommer die Open-Air-Trittbrettfahrer.
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*Party im P1* Foto: IMAGO

München mal wieder. Nachdem sich Restdeutschland schon nachhaltig an den Abgründen der Münchner Clubkultur bespaßen durfte, gehen wir heute ins Freie. Der gemeine Münchner Yuppie hat in diesem Sommer nämlich etwas ganz Neues für sich entdeckt: Open Airs. Anstatt in die elterliche Residenz am Starnberger See geht es nach dem Champagner-Frühstück neuerdings auf einen „Rave". Das einzige, was dabei zählt? Höher, größer, summer.

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Der Anfang allen Übels muss ungefähr vier Jahre zurückliegen. Da organisierten drei Jungs, von denen zwei wirklich völlig in Ordnung sind, ein gemeinsames Open Air in der Innenstadt Münchens. Ein großer Hinterhof im Epizentrum des Araberviertels, keine Genehmigung und weit über 1000 Leute. Diese Veranstaltung hatte den Namen Rave verdient. Als dann auch noch die gesamte Straße mit Polizeisperren versehen wurde, kam sogar eine Spur des Widerstands in den Besuchern auf (Widerstand ist dieses Gefühl, von dem unsere Eltern ab und zu erzählen). Das Ganze sprach sich rum, der Name Autonomica wurde stadtbekannt, es gab einige erfolgreiche Folge-Events an verschiedenen Orten, zu den besten Zeiten kamen knapp 4000 Leute—und da sich in München nichts schneller verbreitet als der Erfolg des Anderen, mehrten sich bis zum (hoffentlichen) Peak im diesjährigen Sommer die Trittbrettfahrer.

Foto: Galeria Autonomica

Natürlich gibt es auch in München eine bis in die frühen Neunziger zurück gehende Kultur von Open Airs für elektronische Musik und es gab mit dem Union Move, sogar mal einen kleinen Bruder der Love Parade zu dem in den besten Jahren 100.000 Besucher kamen. Auch der Superrave des Münchner Clubs Rote Sonne läuft seit Jahren mit einem zwar nicht immer meinen Geschmack treffenden, aber durchaus ambitionierten Booking vor sich hin. Besonders hervorzuheben ist das Organic Music Dance Festival, das es dieses Jahr schon zum zweiten Mal versucht hat, eine große Anzahl von Münchnern mit durchdachtem und anspruchsvollem Programm zu begeistern. Es gibt tatsächlich noch weitere Beispiele, die aber leider die gesamte Entwicklung der letzten beiden Jahre nicht ansatzweise ausgleichen konnten.

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Sonntagsgefühl, Sommerwiese, Mädchen Open Air, …

… Summer Rave, Klangrausch, Hinterhof Rave, Traumfänger Festival und Ohne Halt im Campuswald—nur eine kleine Auswahl an Neuerscheinungen die zumindest auf Facebook regelmäßig Besucherzahlen von weit über 2.000 generieren und in vielen Fällen tatsächlich so viele Personen locken können. Einfach ein *secret rooftop, *funktion one oder *free entry davor geklatscht und schon ist die Hütte voll. Da braucht man dann oft auch gar kein Booking ankündigen, man schreibt einfach etwas Nichtssagendes wie Hirnverbranntes wie: „in warmen Gefühlswogen der Ekstase, tanzend die Zapfen der Kälte und Dunkelheit von sich sprengen und bei entspannten Klängen, in OPEN AIR Atmosphäre das Frühlingsgefühl aufleben lassen […] Lacht. Lebt. Staunt und tanzt zu zahlreichen Ohrenschmäusen mit uns!" (SONNTAG RAVE w/ Funktion One; Samstag 28.03.2015 – 2183 Zusagen), oder man verwendet bei 5 Events hintereinander die „wunderschöne" Formulierung: „die wunderschöne Rooftop Terrasse wird wieder der Schauplatz eines wunderbaren Happenings sein und wir werden mit unserem und eurem SONNTAGSGEFÜHL noch einmal die wunderschöne Dachterasse in eine kleine Wohlfühloase verwandeln und so das Wochenende gemütlich bei leckeren Getränken entspannt zusammen ausklingen lassen.". (SONNTAGSGEFÜHL rooftop; So, 30. 08. 2015 – 2289 Zusagen). Die Macher von „SONNTAGSGEFÜHL" gehen im Interview mit jetzt.de sogar noch einen Schritt weiter und verorten die Ursprünge von Raves am Sonntag in der bayrischen Biergartenkultur, was jetzt endgültig jedem Bayern-Hasser seine Bestätigung geben dürfte: „Man rutscht zusammen und macht es sich gemütlich. Auch, wenn man sich nicht kennt. So ist auch das Sonntagsgefühl entstanden, aus der Biergartenkultur heraus."

WTF?! Meint ihr diese Scheiße wirklich Ernst?

Und ja, es kommt noch schlimmer. Nachdem „Rooftop" und „Funktion One" mittlerweile überall stehen, überbietet man sich seit 2 Monaten mit superlativgespickter Idiotie. Jedes Event ist das größte, höchste und beste. „Die größte Pool Party Münchens", „Die größte Home Party Münchens" oder „Münchens größter Kinderflohmarkt im Backstage" sind nur ein paar von vielen und es gipfelt in von der Stadt organisierten Events namens „Das unwiederbringliche Tunnelfest Teil 1" und „Das unwiederbringliche Tunnelfest Teil 2". Wenn Ihr im Herbst in München weilt, dann kommt doch zur „Wiesn Rooftop Party: 'Die größte in ganz Bayern' ".

Nun fragt man sich früher oder später, welche Personen von solchen Veranstaltungstexten und Bauernfängertricks angezogen werden und es sind – Überraschung – Bauern. Also nicht solche, die am Montag wieder auf dem Feld ihrer Eltern Spargel stechen müssen, sondern blondierte RayBan-Mädchen die von ihrem Sonntagsrave auf Radio Charivari erfahren haben und Holzfällerhemdtypen, die immer mit ihrem besten Freund aufs Klo gehen—aber nur um ihn zu fragen, ob er nach Schweiß riecht. Die CSU-Wählerquote liegt hier bei gefühlten 80% und ich würde mich nicht wundern, wenn schon mal jemand die Polizei ruft, wenn er einen anderen dabei erwischt wie er einen Joint raucht. Kurz: zufriedene, seelenlose Hüllen ohne jegliches Interesse. Warum ich das weiß? Weil ich da war. Also meine Hülle. Die Seele hab ich (fast) zuhause gelassen. Nachdem ich einen Joint geraucht habe, musste ich gehen. Ich bin nicht traurig darüber.