Fotos von Amy Lombard.Mit Sam Shepherd kann man über fast alles reden. Der in London lebende Künstler, besser bekannt als Floating Points, ist so gebildet wie ein erfahrener Uniprofessor. Das ist eigentlich auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass er die letzten drei Jahre damit verbracht hat, seinen Doktor in Neurowissenschaften zu machen.Ganz genau, für dich jetzt bitte Dr. Floating Points.Shepherds musikalisches Interessenfeld ist so weitläufig wie tiefgreifend und umspannt so ziemlich alles von altem Soul über Modularjazz bis hin zu Progressive Rock. Aber auch Clublegenden wie Theo Parrish zählt er zu seinen Einflüssen, der genau wie Shepherd eine langjährige Residency bei der ehemaligen Londoner Party-Institution Plastic People innehatte. Mit der gleichen Begeisterung erzählt er vom komplizierten Aufbau seines Studios oder dem selbstgebauten Harmonographen, mit dem er das Coverartwork der letzten Platten gemacht hat. Shepherd ist jemand, der es nicht nur liebt, etwas Neues zu lernen, sondern dem es auch sichtlich Spaß macht, das Erlernte weiterzuvermitteln. Er geht Themen aus jeder erdenklichen Richtung an—wie ein waschechter Wissenschaftler eben.
Anzeige
Diese Liebe zum Detail gilt auch für Shepherds Musik und im Besonderen für sein sehnlichst erwartetes Debütalbum Eleania, das allerdings nicht auf Eglo rausgekommen ist—das Label, das er mit dem ehemaligen RinseFM Veteranen Alexander Nut betreibt—sondern auf David Byrnes Label Luaka Bop. Das Album ist jetzt gerade einen guten Monat draußen und gehört schon zu den meistbesprochenen und –gelobten Veröffentlichungen des Jahres. Sieben fesselnde Tracks lang taucht der Hörer in eine Klangwelt bestehend aus Rhodes Chroma Pianos, Bunchla Synthesizern und Vibraphone, Flöten, Drums und vereinzelten Choreinlagen ab. Das Album vereint in „Silhouettes" die Stimmen der Gastkünstlerinnen Rahel Debebe-Dessalenge und Layla Rutherford—und das alles mit der gleichen manischen Detailversessenheit, die schon seine vielgefeierten 12"s ausgemacht hat.Während seine vergangenen Geschenke an die Welt—wie Nuit Sonores und das treibende King Bromeliad von 2014 oder Shadows von 2011—die Tanzfläche kreativ zum Kochen bringen können, wenn sie an der richtigen Stelle im Set eingesetzt werden, positioniert sein „offizielles" Debütalbum, das er über einen Zeitraum von drei Jahren arrangiert und aufgenommen hat, Shepherd vom Platz hinter den Plattentellern an einen neuen Ort: Den Sessel des Komponisten.
In vielerlei Hinsicht fühlt sich Elaenia wie Shepherds Neuinterpretation klassischer, experimenteller Jazzalben wie Bitches Brew von Miles Davis, das traditionelle Jazzklänge zu Gunsten eines lockereren, Fusion-lastigem Improv-Stil hinten an stellte, oder Herbie Hancocks Headhunters, das von den Klängen des ARP Odyssey Synths und Rhodes Electric Piano durchzogen ist. Es lässt sich auch eine gute Portion Sun Ra raushören, wie sein Album Strange Celestial Road, das Shepherd für seine 2009er Single „For You" gesamplet hat.
Anzeige
Genau wie diese Alben ist Elaenia vor allem durch Improvisation entstanden. Das Album ist nach einem Vogel benannt und seine sieben Tracks entfalten sich wie lebendige Wesen—dehnen sich aus, wechseln ihre Form, beschleunigen, bremsen ab und zerfallen bis nichts mehr überbleibt als weißes Rauschen. Manchmal sind die Tracks warm und verzerrt, andere Male bringt dich die Spannung leicht aus der Fassung, aber, wie die Natur selbst, bleibt das Album ein facettenreiche, sich ständig verändernde Erfahrung. Auf „Elaenia" und „Nespole" experimentiert Shepherd als Ein-Mann-Show hinter Trios aus Rhodes Pianos und Odyssey-Synths; auf „Argente" und „Thin Air" setzt er diese elektronischen und traditionellen Pianos gegen einen Palette aus Marimbas und Snare Drums ein.
Im Anschluss an die Albumveröffentlichung hat sich Shepherd dann mit einem elfköpfigen Orchester auf Tour begeben, darunter Flöte, Bass, Gitarre, Geigen, Cellos, Saxophone, Posaunen, Schlagzeug und noch mehr. Im Kontrast zum oftmals einsamen Leben eines DJs ist Shepherds Vorstoß in Livegefilde eine Aufeinandertreffen mit alten Freunden und langjährigen Kollaborateuren—wie Gitarrist Dave Okumu von der Rockband The Invisible aus South East London, für die Shepherd 2012 auch einen wunderschönen Remix gemacht hat. (The Invisible Drummer Leo Taylor war ebenfalls an den Aufnahmen zum Album beteiligt.)Shepherd betont ständig das Improvisationstalent jedes einzelnen Musikers in seinem Live-Ensemble, die wie selbstverständlich auf die gegenseitigen Einsätze anspringen. Weitere auf dem Album vertretene Gastmusiker sind die Flötistin Renate Sokolovska, die Violinisten Phillip Granell und Paloma Deike, Bratschistin Anisa Aslanagic, Cellistin Magada Pietraszewska, Saxophonist Shabaka Hutchings, Posaunist Tom George White und Drummer Leo Taylor. Für Shepherd war die Zusammenarbeit mit dieser großen internationalen Band die Gelegenheit, sich selbst mehr herauszufordern als jemals zuvor—inklusive, aber nicht beschränkt auf nervenaufreibende Unfälle mit Live-Ausrüstung und frustrierenden Visaproblemen.
Anzeige
Am 07. Februar 2016 wird die Band das Abschlusskonzert des CTM-Festivals in Berlin spielen. Falls du die Gelegenheit hast, dort vorbeizuschauen, kannst du dich Glücklich schätzen—falls nicht, dann können wir dich hoffentlich mit einer exklusiven Liveperformance des Floating Points Tracks „Silhouettes (I, II & III)" darüber hinwegtrösten. Die Session wurde in den YouTube Studios in New York City aufgenommen. Die Visuals dazu stammen vom Creative Team um Pablo Barquín und Anna Diaz Ortuño.Meine Musik steht eigentlich nie unter dem Banner, etwas erschaffen zu müssen. Ich finde, dass man [wenn man mit einer solchen Intention produziert] Musik zum Teil aus den falschen Gründen macht. Es gibt aber andere Situation, in denen man so etwas wie den Embryo einer Idee hat und dann gehe ich durch diese Prozesse, um eine Idee weiter auszubauen. Wenn ich es mal nicht schaffe, Ideen zu entwickeln oder es einfach im Nichts verläuft, dann kümmert mich das nicht weiter.Es können Monate über Monate vergehen, in denen ich absolut überhaupt keine Ideen habe, und das ist total normal. Ich befinde mich an einem Punkt, an dem ich langsam kein Problem mehr damit habe, über einen bestimmten Zeitraum keine neuen Ideen zu haben. Es kann schon ziemlich deprimierend sein, wenn man eigentlich Musik macht und nicht inspiriert ist, irgendwelche Musik zu machen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass ich eines Tages wieder eine Idee haben werde. Jetzt da Musik mein Hauptbetätigungsfeld ist, könnte es mir aber vielleicht anders ergehen, wenn ich über einen längeren Zeitraum keine Ideen mehr habe.
Außerdem hatten wir die Gelegenheit mit Shepherd im Detail über einige der wichtigsten Lektionen zu sprechen, die er im Zuge des Aufnahmeprozesses und der Live-Auftritte zu Elaenia gelernt hat—eine Erfahrung, die ihn an einen Ort gebracht hat, der Welten von der Trackproduktion am Laptop und DJ-Sets in verschwitzten Kellerclubs entfernt ist. Jeder Künstler, egal ob Musiker oder nicht, wird darin wahrscheinlich etwas Brauchbares und, hoffentlich auch, Inspirierendes entdecken.
10. Du musst nicht immer einen Song schreiben wollen, um Musik zu machen
Anzeige