20 Jahre Nachtdigital – “Wirklich geil geht nur mit Selbermachen”
Martin Lovekosi

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Festivals

20 Jahre Nachtdigital – “Wirklich geil geht nur mit Selbermachen”

Wie aus einem nur schwer laufenden nordsächsischen Provinzevent das wohl sympathischste Minifestival des Landes wurde.

Fotos von Martin Lovekosi (1 und 2), Martin Hantsch (3) und Christian Rothe (4)

Samstagabend, Golem, Hamburgs gar nicht mehr so geheime secret weapon, unscheinbar einen Steinwurf nur vom Fischmarkt gelegen. Das Hafenklang steht ein paar Hausnummern weiter, sonst gibt es hier nichts von Bedeutung für dich und mich. Die Woche liegt mal wieder ungenutzt hinter den Meisten. Scheiß drauf. Das "Nachtdigital Festival" feiert heute sein 20-jähriges Jubiläum im Golem. Gute Drinks und ein Floor oben, der Eingang zum Keller mit seinem zweiten Floor und einem Kinosaal versteckt hinter einer als Bücherregal getarnten Wand. Während der Partys laufen Stummfilme, in den Sesseln versunken: beschäftigte Leute, die nicht aufschauen. Keine Kraft mehr, zu stehen.

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Rückblende, gut 460 Kilometer elbaufwärts: "In der Region fand sich eine Gruppe von Leuten zusammen, die schon ein paar andere Partys veranstaltet hatten. Die hatten ganz am Anfang einen Jugendclub und später Lust, ein Open Air zu machen. Dann sind sie in der Gegend herumgefahren und haben dieses Bungalowdorf gefunden." So erinnert sich Steffen Bennemann an die erste Ausgabe des Nachtdigitals '98 im nordsächsischen Olganitz, "damals noch als Ein-Tages-Open Air."

Steffen sitzt mit Nina – DJ, Host der Pudel-Reihe "Nina trifft …" und Mitgründerin des Labels V I S – und mir im Kandie Shop auf St. Pauli, draußen hat Eduard Mörike den Frühling bestellt. "Zu Anfang strahlte das Festival nicht mal nach Leipzig oder Dresden aus, es gab vielleicht einzelne Autos von dort", sagt der Festivalbooker und DJ (oben auf dem Foto in Aktion zu sehen). "Aber in erster Linie war es doch ein Festival für die Provinzkids wie uns."

Langsam wuchs das Nachtdigital, wurde gleichzeitig jedoch immer schwerer zu finanzieren. Probleme mit schlechtem Wetter und dadurch fehlenden Besuchern verstärkten die Situation in den Anfangsjahren. "Das Festival hatte sich da schon ein paar Ausgaben nicht gerechnet. Wir haben dann alles auf eine Karte gesetzt, Geld aufgetrieben – und Glück gehabt mit dem Wetter. Das war glaube ich bereits die zehnte Nummer, als es zum ersten Mal richtig funktionierte. In dem Jahr haben wir auch die Teilnehmerzahl auf 3000 festgelegt, weil sich abgezeichnet hat, was wir stemmen können – und was nicht. Viele bei uns arbeiten ehrenamtlich mit, damals wie heute und der Spaß sollte bei all der Arbeit immer im Vordergrund stehen bleiben", so Bennemann.

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"Zu Anfang strahlte das Festival nicht mal nach Leipzig oder Dresden aus, es war in erster Linie ein Festival für die Provinzkids wie uns." – Steffen Bennemann

Die Teilnehmerzahl ist auch heute noch auf 3000 Tickets begrenzt, das Festival jedes Jahr binnen kürzestes Zeit ausverkauft. Nina, mittlerweile Stammgast in Olganitz, überlegt wann sie das erste Mal dort war: "Ich glaube vor fünf, sechs Jahren – meistens als Artist oder Freundin des Festivals, nur bei meinem ersten Besuch war ich klassischer Gast."

In wenigen Monaten geht die diesjährige Festivalsaison los; auch 2017 wieder mit unzähligen Events, alten, neuen, großen und kleinen. Reicht ein limitiertes Kartenkontigent und eine lange History aus, um ein Festival so lange interessant zu halten? Bennemann spricht davon, dass man sich nie ausruhen dürfe, nie seiner sicher sein. "Überall schießen Festivals aus dem Boden. Ich denke, gerade wenn man das so lange macht wie wir, darf man nicht faul werden. Wir hatten jetzt ein paar Jahre diese Luxusposition, dass wir wussten, dass wir ausverkauft sein werden – bevor wir unser Programm bekannt geben. Damit steigen aber gleichzeitig auch die Erwartungen der Zuschauer." Nachhaltigkeit sei seit ein paar Jahren ein größeres Thema, nicht nur beim Nachtdigital.

"Jedes Jahr gibt es ein neues Projekt", so der Festival(mit)macher. Mittlerweile habe man das Catering wieder in die eigene Hand genommen, "denn wir haben gemerkt, wenn wir etwas wirklich Geiles bieten wollen, dann müssen wir das selber machen. Und wenn wir nicht die nötige Expertise haben, dann müssen wir die erst einmal aufbauen."

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Nina spricht einen wenige Jahre alten Ambient-Floor an, Steffen die erstmalige Möglichkeit dieses Jahr über den Sonntag hinaus ohne Umziehen auf dem Gelände zu campen, sie ergänzt: "Die Dinge werden ja auch schon bewusst angegangen, man setzt sich da lange im Voraus mit den angedachten Neuerungen auseinander, was ich ja sehr toll finde. Hier werden nicht wahllos irgendwelche Entscheidungen getroffen. So steigt die Qualität jedes Jahr, trotzdem ist es deswegen nicht durchorganisierter."

"Wenn wir etwas wirklich Geiles bieten wollen, dann müssen wir das selber machen." – Steffen Bennemann

Mit einem "Nachtiville" genannten Festival versuchte man 2015 einen Ableger im niederländischen Zeewolde zu etablieren. Mitten im Ferienpark mit Betten für jeden, Schwimmhalle, Tennisplätze, Restaurants, das ganze Programm; vor allem aber: Indoorlocation statt Tanzen unterm Freien Himmel. Das winterliche Technofestival im Familien- und Kinderparadies kam gut an, die Auslastung war für eine Nebensaison hoch. Dabei war "die Assoziation von Nachtiville mit Nachtdigital von Anfang an eine unserer größten kommunikativen Hürden. Darum haben wir es auch anders benannt und strukturell streng voneinander getrennt", erläutert Bennemann.

Es sollte das Zweitfestival der Nachtdigital-Macher werden, das winterliche Pendant zu Olganitz. "Dieses Projekt ist leider nicht zu dem Punkt gekommen, an dem es sich richtig entfalten konnte, da die Location keinen Bock mehr auf Festivals hatte. Wir sind dann zwar noch auf die Suche gegangen, aber nur um dann zu merken, dass wir ja in Zeewolde bereits die beste Location hatten. Ich denke, wenn es das noch mal geben sollte, dann wird es zu uns kommen. Und wenn nicht, dann bleibt es bei dem einen Mal", ist er überzeugt. Genug zu tun, gibt es sowieso, auch oder gerade im zwanzigsten Jahr des Bestehens.

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Diese Auflage ist erneut ausverkauft, das Line Up – wie stets – noch nicht bekannt gegeben. Aber was macht das Nachtdigital denn nun so besonders? Die Location, gewiss. Anderseits, mit ein paar Bühnen oder Zelten auf der platten Wiese lockt man schon lange keinen mehr an – eine spezielle Location ist also mehr Muss denn special benefit.

"Man spürt einfach den Antrieb der Leute, die das Festival machen. Die Musik, würde ich sagen, ist austauschbar – wie bei allen Elektronik Festivals. Und der ostdeutsche Humor – den merkt man auch. Dass man sich selbst so wenig ernst nimmt und überhaupt die Dinge an sich nicht. Da muss man erst mal drauf klarkommen als Norddeutsche, das kennt man hier nicht", lacht Nina. Als vor Jahren das Nachtdigital die Connection zu den Hamburger Labels Smallville und Dial legten, wurde sie erstmals auf das Festival in Olganitz aufmerksam: "Julius und Lawrence waren total aus dem Häuschen, was die dortige Stimmung angeht. Das sind beides entspannte Typen, aber schon tendenziell eher Hamburger, so vom Wesen her. Das ist das, worüber sie erster Linie gesprochen haben haben – nicht über die Deko, nicht über das Line Up oder so. Über die Stimmung – die ist dort einfach anders."

"Die Stimmung ist beim Nachtdigital einfach anders. Und man merkt auch den ostdeutschen Humor." – Nina

Abends. Es ist mild, aber nass. Der Kiez tobt nebenan auf dem Weg zum Hafen. Im Golem legen Bennemann und Nina gleich auf, natürlich. Leipzig, Berlin, Hamburg, Rotterdam, Amsterdam – Stationen der Jubiläumstour 2017. Jedes Mal ein anderes Line Up, jedes Mal eine bunte Mischung: lokal und international. Manchmal eine große, mal eine kleine, feine Party.

Bennemann: "Es geht uns nicht darum im großen Eventzirkus der Global Brands mitzumischen, sondern eben genau um diese vermeintlich unspektakulären Begegnungen im vertrauten Rahmen – so wie im Golem. Das ist was uns ausmacht."

Am 4. August sieht man sich dann wieder in Olganitz.

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