Wie Majlinda Kelmendi dem Kosovo das erste Olympia-Gold bescherte

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Judo

Wie Majlinda Kelmendi dem Kosovo das erste Olympia-Gold bescherte

Judo-Star Kelmendi hatte schon fast alles erreicht. Nur für ihr Heimatland Kosovo durfte sie noch nie bei Olympia antreten. Gestern holte sie in Rio Gold. Und vor allem Putin dürfte ordentlich abgekotzt haben.

„Ich bin Europameisterin und Weltmeisterin. Das einzige, was mir jetzt noch fehlt, ist der Olympiasieg. Den möchte ich mir in Rio holen." Das waren die Worte von Majlinda Kelmendi in einem Interview mit VICE Sports im letzten Jahr. Die Kosovarin war schon damals die Nr. 1 der Welt in ihrer Gewichtsklasse und gefeierte Heldin in ihrer Heimat. Aber vor allem war sie eins: heiß auf Rio.

Gestern hat Kelmendi in Rio de Janeiro Geschichte geschrieben und dem Kosovo—dessen Fahnenträgerin sie bei der Eröffnungsfeier war—die allererste Medaille seiner noch jungen Geschichte beschert. Gold. Bei ihrer ersten Olympia-Teilnahme für ihr Heimatland, nachdem sie vor vier Jahren noch für Albanien auflaufen musste, um überhaupt auflaufen zu dürfen. Im 52-Kilo-Finale besiegte die 25-Jährige die Italienerin Odette Giuffrida und ergänzte ihre Medaillensammlung aus zwei WM-, drei EM-Titeln sowie einer olympischen Bronzemedaille um das wichtigste Edelmetall ihrer Karriere. Und einer wird still und heimlich besonders darüber abgekotzt haben: Wladimir Putin.

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Rückblick:

Vor zwei Jahren fand die Judo-WM in Russland statt und Kelmendi stand im WM-Finale. Als sie ihre rumänische Gegnerin mit der obligatorischen Verbeugung begrüßte, konnten sowohl die Zuschauer am Fernseher als auch die Judo-Fans in der Arena drei Buchstaben, IJF, auf der Rückseite ihres Judogi lesen. Auch auf der Wettkampfkarte neben der Matte standen dieselben drei Buchstaben geschrieben.

Die russischen Organisatoren hatten es Kelmendi untersagt, während des Wettkampfes den Namen ihres Heimatlandes Kosovo auf ihrem Anzug und anderswo zu zeigen. Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens kam es zur Abspaltung des Kosovo von Serbien und infolgedessen zu zwei Jahrzehnten bewaffneten Konflikts und politischer Unruhen, die ein Eingreifen der Vereinten Nationen erforderlich machten. Auch heute befindet sich der Kosovo noch immer in einem geopolitischen Schwebezustand: Die USA und viele ihrer Verbündeten haben den Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt, im Gegensatz zu Serbien, Russland und einigen anderen Staaten. Aus diesem Grund musste sich Kelmendi auch mit IJF, dem Kürzel für „International Judo Federation", auf ihrem Judogi begnügen.

Kelmendi war eigentlich nach Russland gekommen, um für den Kosovo zu kämpfen—nur dass während der Siegerehrung weder die Fahne des Kosovo noch dessen Nationalhymne, „Evropa", gespielt wurde. Gegenüber von ihr saß der russische Präsident Wladimir Putin—der wohl berühmteste Judo-Fan der Welt—, der erst wenige Monate vor Turnierbeginn erneut betont hatte, dass sein Land immer an der Seite Serbiens stehen und darum niemals den Kosovo anerkennen würde.

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In diesem Moment, in dem sie hilflos mitansehen musste, wie man ihre nationale Identität mit den Füßen trat, sprach Kelmendi ein leises Gebet: „Möge ich nie wieder eine solche Demütigung erleben müssen."

Ende 2014 hat das Internationale Olympische Komitee (IOK) seinen Teil dazu beigetragen, dass Kelmendis Gebet erhört wird. Das Nationale Olympische Komitee (NOK) des Kosovo hatte nämlich vonseiten des IOK die vollständige Anerkennung erhalten, was es dem Kosovo erlauben sollte, an allen IOK-Veranstaltungen teilzunehmen. Und eben auch bei den Olympischen Spielen in Rio.

Noch im letzten Jahr erzählte uns eine aufgeregte Kelmendi:

„Seit so vielen Jahren habe ich davon geträumt, mit Kosovo auf meinem Rücken für mein Land kämpfen zu dürfen. Dass es jetzt kein Traum mehr ist, sondern Wirklichkeit, ist eine riesige Motivation für mich."

Majlinda Kelmendi weiß, wie sie dich umhauen kann.

„18 lange Jahre haben meine Kollegen und ich darauf hingearbeitet, dass das eintreffen würde, was uns am 22. Oktober 2014 vonseiten des IOK mitgeteilt wurde: dass das NOK des Kosovo eine vorläufige Anerkennung erhält", sagte Besim Hasani, Präsident des kosovarischen NOK, vor einem Jahr gegenüber VICE Sports.

Die IOK-Anerkennung des Kosovo war ein langwieriger Prozess, der juristisch gesehen auf wackligen Beinen stand. Damit ein NOK von der IOK anerkannt werden kann, muss es einem „unabhängigen Staat angehören, der von der internationalen Gemeinschaft anerkannt wird". Genau diese Wortwahl hat Hasani lange Zeit verrückt gemacht. „Was genau ist denn bitte mit internationaler Gemeinschaft gemeint?", formulierte er die Gretchenfrage.

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Der einfachste Weg, dieses Kriterium unstrittig zu erfüllen, wäre eine Mitgliedschaft bei der UN. Doch dafür hätte der Kosovo eine schier unmögliche Hürde überwinden müssen: den Widerstand Russlands. Denn Moskau hat der Weltgemeinschaft sehr klar zu verstehen gegeben, dass man jeglicher UN-Debatte um eine Mitgliedschaft des Kosovo mithilfe seines Vetorechts umgehend einen Riegel vorschieben würde.

In den letzten zwei Jahrzehnten sind gerade einmal zwei Staaten—der Südsudan und Montenegro—in die Vereinten Nationen aufgenommen worden. Und Befürworter einer Olympiateilnahme des Kosovo wussten stets, dass man nur dann von einer Anerkennung der „internationalen Gemeinschaft" sprechen könnte, wenn die Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten einer Unabhängigkeit des Kosovo zustimmen würden. Doch angesichts der gewalttätigen und turbulenten Geschichte des Landes war Hasani und seinen Kollegen klar, dass es nicht leicht werden würde, das Ausland zur Anerkennung der Eigenstaatlichkeit zu mobilisieren.

Der historische Konflikt um den Kosovo ist mehrere hundert Jahre alt. Serben und Albaner erheben gleichermaßen Anspruch auf die Region. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach im ehemaligen Jugoslawien ein Bürgerkrieg um das Kosovogebiet aus. Während des Krieges führte der jugoslawische Präsident Slobodan Milošević ethnische Säuberungen durch, bei denen mindestens zehntausend Kosovo-Albaner ums Leben kamen und Hunderttausende vertrieben wurden. Auch Kelmendis Heimatstadt Peć an der Grenze zu Montenegro wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. Am Ende wurde der Kosovo unter die Verwaltung der Vereinten Nationen gestellt.

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Die Stadt Peć mit dem Rugova-Gebirge im Hintergrund. Foto von Leonardnikaci1 via WikiMedia Commons

Kelmendi gehört zu einer Generation, die mit dem Bewusstsein aufwuchs, dass der erste wichtige Schritt für den Kosovo und sein Volk die Ausbildung einer eigenen Identität darstellen würde. Darum begann man auch damit, eine eigene soziale Infrastruktur aufzubauen: ein kosovarisches Schul- und Polizeiwesen sowie Gesundheitssystem. Außerdem setzte man vermehrt auf Leute, die den Kosovo auf der internationalen Bühne positiv in Szene würden: seine Athleten.

Aus diesem Grund hat das kosovarische NOK die Jugend des Landes regelmäßig aufgefordert, mehr Sport zu treiben, sei es in Stadien, Feldern oder maroden Fitnessstudios. Die größte Herausforderung war dabei, die Jugendlichen bei Laune zu halten. Doch ohne Aussicht darauf, sein Land bei internationalen Sportveranstaltungen vertreten zu dürfen, fehlte es der Jugend an Anreizen, mit gleichbleibendem Engagement weiter zu trainieren. „Nach einigen Jahren haben viele unserer Athleten schlicht und einfach die Motivation verloren und mit dem Sport aufgehört. Viele von ihnen haben mir und meinen Kollegen dann vorgeworfen, dass wir nicht genügend getan hätten, um etwas an der Situation zu ändern", erzählte uns Hasani.

Trotz aller Bemühungen vonseiten des kosovarischen NOKs sah sich das Land noch immer großen bürokratischen Hürden gegenüber.

Selbst als sich der Kosovo 2008 offiziell von Serbien abgespaltet und seine Unabhängigkeit erklärt hat, folgte der IOK-Präsident Jacques Rogge der Logik der Vereinten Nationen und erkannte den Kosovo weiterhin nicht an. Kurz vor den Olympischen Spielen in London unternahm das NOK noch einen letzten Versuch. Doch auch dieses Mal wurde Hasanis Hoffnung auf eine Teilnahme seines Landes enttäuscht, weswegen auch Kelmendi verwehrt blieb, den Kosovo auf olympischer Bühne zu vertreten. Nicht einmal als „unabhängige Athletin" durfte sie antreten, obwohl es dafür einen Präzedenzfall gab—denn im Jahr 2000 durften vier Athleten aus Osttimor genau unter diesem Titel bei den Spielen in Sydney an den Start gehen.

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„Für die Athleten muss das extrem hart sein. Jeden Tag trainiert man mit dem Ziel, sein Land international vertreten zu können. Und nach vier Jahren heißt es dann: Sorry, die Olympischen Spiele werden wieder ohne euch stattfinden", so Hasani weiter.

Als schon vieles darauf hindeutete, dass der Kosovo auch die Olympischen Spiele in London verpassen würde, hat Aserbaidschan versucht, Kelmendi abzuwerben. So versprach man ihr beispielsweise, alle anfallenden Kosten zu übernehmen. Am Ende aber fiel ihre Wahl auf Albanien—nicht zuletzt deswegen, weil der Kosovo in großer Mehrheit von Albanern bewohnt wird. Außerdem hoffte sie, in Zukunft nicht mehr erklären zu müssen, warum denn „IJF" auf ihrem Judogi stehe. Denn Fragen wie „Was soll das sein?", „Ist das ein Land?" „Warum trägst du das auf deinem Rücken?" standen laut Aussage von Kelmendi bei Wettkämpfen auf der Tagesordnung.

„Ich habe nie verstanden, warum sich die Politik in alles einmischen muss. Haben die Athleten auf der Welt nicht das Recht, überall mit gleich viel Respekt behandelt zu werden?", meinte Kelmendi vor einem Jahr. „Für einige mag der Kosovo ein kleines, unbedeutendes Land sein, das nicht so schön ist wie viele andere Länder in Europa. Doch für mich ist es einfach das beste Land der Welt."

Die Nationalbibliothek in Pristina, Kosovo. Foto von Hipi Zhdripi via WikiMedia Commons

Der Kosovo, mit seinen zwei Millionen Einwohnern, liebt seine Athletin gleichermaßen. Denn Kelmendi war schon vor ihrem Olympiasieg die populärste Sportlerin ihres Landes. Wenn sie durch ihre Heimatstadt lief, sah sie an vielen Ecken Plakate von sich und musste in einer Tour Autogrammwünsche erfüllen. Eltern kamen auf sie zu und meinten, dass sie sich wünschen, ihre Tochter werde auch mal so wie sie. Welchen Stellenwert sie jetzt, als frisch gebackene Goldmedaillengewinnerin, in ihrem Heimatland hat, kann man nur erahnen.

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Ihr Erfolg geht auf verdammt viel Arbeit und noch mehr Verzicht zurück. „Trainieren, trainieren, trainieren. Sonst gibt es nichts in meinem Leben. Für den Erfolg habe ich alles andere aufgegeben."

Ihr Coach, Driton Kuka, hat auch vieles dafür aufgegeben, damit sein Schützling zur besten Judokämpferin der Welt werden konnte. Denn als Kelmendis Karriere unbedingt finanzielle Unterstützung brauchte, ist Kuka eingesprungen und hat begonnen, ihre Rechnungen zu bezahlen. Er hat sämtliche Kosten, etwa für ihr Training, ihre Ernährung und die vielen Reisen, aus eigener Tasche bezahlt. Er wollte durch sie und ihre Erfolge das Leben leben, das ihm selber nicht vergönnt war. Auch Kuka hat nämlich Medaillen bei Jugendwettkämpfen gewinnen können. Bis sich dann der Kosovokonflikt zuspitzte. Da gab er Judo auf, um für die Unabhängigkeit seines Landes zu kämpfen, und schloss sich der UÇK an. Nach dem Krieg eröffnete Kuka dann einen Judoclub und bot den Kindern und Jugendlichen in seiner Nachbarschaft Schnupperkurse an.

Sein Club lag ganz in der Nähe von der Straße, wo Kelmendi viele Stunden am Tag mit ihren Freunden Fußball gespielt hat. Kelmendis Schwester hat ihr dann mal vorgeschlagen, eine Judoprobestunde zu nehmen. Da war Kelmendi sieben. Liebe auf den ersten Blick war es aber nicht. Ihr war anfangs nicht mal wirklich klar, mit was für einer Art Sport sie es da eigentlich zu tun habe. Kelmendis Eltern hielten ihre Tochter für ein ruhiges und introvertiertes Mädchen. Sie dachten nicht, dass ihr der Judosport groß zusagen würde. „Alle haben damit gerechnet, dass ich nach einem Monat wieder das Handtuch schmeiße", erzählt sie.

Doch als Kelmendi dann mit dem Training begann, lernte sie auf einmal eine ganz andere Seite von sich kennen und spürte eine nie gekannte Kraft. Schon nach wenigen Trainingseinheiten schickte Kuka seinen Schützling zu einem Wettkampf nach Sarajevo. Die dortigen Organisatoren überreichten ihr für ihren dritten Platz sogar eine Bronzemedaille, obwohl in ihrer Gewichtsklasse eh nur drei Wettkämpfer angetreten waren. Zurück in Peć beschloss sie, dass es etwas Großartiges war, reisen zu dürfen und Medaillen zu sammeln. Sie hatte endgütig Blut geleckt.

In den darauffolgenden Jahren hat sie ihr Leben komplett nach dem Sport ausgerichtet und dabei auf all das verzichtet, was eigentlich typisch für Jugendliche ist: einen großen Freundeskreis, erste Partys und Beziehungen. Und selbst als viele ihrer Mitstreiterinnen aufgaben, weil sie nicht mehr an eine IOK-Anerkennung glaubten, hat sie weiter gemacht und an ihrem großen Traum gearbeitet.

Dieser Traum ging gestern in Erfüllung. „Ich bin so glücklich", erzählte sie Reportern kurz nach ihrem Olympiasieg. „Ich bin glücklich für mich, meinen Coach, für mein gesamtes Land. Ich habe meinen Landsleuten gezeigt, dass sie trotz des Krieges alles erreichen können, wenn sie es wollen. Wenn sie Olympiasieger werden wollen, können sie das schaffen. Auch wenn wir aus einem kleinen und armen Land kommen."