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Clubkultur

Ist Aids überhaupt noch ein Thema? Und Safer Sex uns wichtig?

Tinder und Grindr bescheren uns Sex auf Abruf. Unsere Lieblingspartys heißen bspw. “Pornceptual”, Chemsex ist ein Trend. Nur über Geschlechtskrankheiten reden wir nicht so gerne.
imago

Als ich in München aufwuchs, hatte ich immer den gleichen Satz in den Ohren: "Am Spielplatz und auf der Wiese keine Spritzen anfassen!" Dass die piksen, wusste ich als Kind, doch warum ich davor gewarnt wurde, habe ich lange nicht verstanden. Heute lebe ich in Berlin, "Hauptstadt der Syphilis", zwischen tausenden Tinder- und Grindr-Nutzer und -Nutzerinnen, zwischen Chlamydien und Darkrooms, zwischen ungeschütztem Sex, Drogen und gehypten, sexpositiven Parties wie "Gegen", "Pornceptual" oder "Herrensauna". Und irgendwo dazwischen stellt sich die Frage: Ist Aids überhaupt noch ein Thema? Und ist Safer Sex uns wichtig?

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Eine Praxis. Im Wartezimmer sitzt ein junger Mann. Beim Wasserlassen brennt es. Er möchte eine Tablette, damit es weggeht. Was der Mann bekommt, ist ein Paket. "Ein Paket, das auch Aufklärung enthält", sagt Dr. Martin Viehweger, Berliner HIV-Schwerpunktarzt. Seine Arbeit besteht nicht nur dem Test auf und Behandlung von Geschlechtskrankheiten, sondern auch aus Prävention.

"Wir gehen davon aus, dass die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland leicht ansteigt", so der Arzt, "doch ganz genau lässt sich das nicht sagen." Nach Schätzung des Robert Koch-Instituts haben sich in Deutschland im vergangenen Jahr etwa 3.200 Menschen neu mit dem Virus infiziert. Ende 2015 lebten rund 84.700 Menschen mit HIV in Deutschland von denen 12.600—knapp 15 Prozent—nichts von ihrer Infektion wussten. Am stärksten betroffen sind homo- und bisexuelle Männer. Sie machen 70 Prozent der Neuinfektionen aus. In Berlin leben derzeit etwa 17.000 positive Menschen.

"Deutsche Männer tragen beim Sex nicht gerne Kondome"

"In dem Moment, in dem Menschen Grenzerfahrungen machen—dazu gehören auch Parties und Drogen—, wird man toleranter gegenüber Grenzerfahrungen in anderen Bereichen", erklärt Dr. Viehweger. Durch das Internet kann man sexuelle Nischen auffinden, ausgelassene sexbejahenden Kultur lebt in Clubs. Und auch neue Dating-Praktiken und Drogenkonsum haben ihre Auswirkung auf die Ausbreitung von sexuell übertragbaren Erkrankungen (STI). Die Frage ist nur, ob und wie darüber gesprochen wird.

Federico*, 27, ist Kunststudent. Er nutzt zwar Tinder, doch wegen Geschlechtskrankheiten mache er sich keine großen Sorgen. So aktiv sei er dann doch nicht. HIV/Aids sind für ihn zwar präsent, aber eher in Form von Plakatwerbung in den U-Bahnhöfen.

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Hanna*, 33, teilt eine ähnliche Erfahrung: "Queere Frauen wie ich sind in der weder in der Öffentlichkeit noch in Clubs so sexuell aktiv wie Männer. Es gibt Communities, die mehr darüber sprechen, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich in Berlin viel über STIs gehört habe", sagt die aus San Francisco Stammende. In den Staaten werde anders darüber gesprochen.

Und Marta*, 27, machte ungewohnte Erfahrungen in Deutschland: "Als ich Single war, bemerkte ich, dass die deutschen Männer nicht gerne Kondome beim Sex tragen." Dass sei ihr in Spanien, England oder den USA nicht so sehr aufgefallen.

Frederico sagt, er nutze zwar Tinder, doch wegen Geschlechtskrankheiten mache er sich keine großen Sorgen. So aktiv sei er dann doch nicht.

Rasanter als HIV steigen andere Schmierinfektionen wie Papillomviren (verantwortlich für Gebärmutterhalskrebs), Krätze, Filzläuse, Hepatitis C ,Tripper, Chlamydien oder Syphilis an. Die Lustkrankheit von vorgestern, hat sich in den letzten 10 Jahren erheblich ausgebreitet, besonders unter Männern, die Sex mit Männern haben (MSM)—in Deutschland, Westeuropa und den USA. Sie beginnt mit schmerzlosen Geschwüren und kann unbehandelt innere Organschäden hervorrufen.

Mit Überschriften wie "Berlin ist Hauptstadt der Syphilis", wie sie im Sommer in vielen Zeitungen zu lesen war, verpasse man allerdings eine Chance, Menschen für diese Themen zu sensibilisieren und Awareness zu schaffen, so Dr. Viehweger. Ähnlich sieht der Mediziner das Thema Chemsex und den Fall um den Grünen-Politiker Volker Beck, bei dem Anfang des Jahres 0,6 Gramm Crystal Meth gefunden wurden. Eine Droge, die beim Chemsex zum Einsatz kommt. Beck trat von seinen Fraktions- und Parlamentsämtern zurück.

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Sex und Drogen: Körper anders spüren

Sex und Drogen gehören für viele Menschen heute zusammen. Aber unter ihnen steigt die Zahl der mit-Hepatitis C-Infizierten. Das Virus ist nicht nur durch den intravenösen Drogengebrauch übertragbar, sondern auch durch geteilte Röhrchen beim Sniffen. Warum machen sie dennoch weiter?

Für Klaus*, 33, ist Sex, bei dem Gras, Poppers oder G (GHB) ins Spiel kommt, eine Bewusstseinserweiterung: "Der Orgasmus ist intensiver." Da ist der Reiz, etwas Neues auszuprobieren, Körper anders zu spüren. Dennoch hat Klaus Angst vor Stigmata, wenn er neuen Partnern gegenüber seine sexuellen Wünsche äußert. Er selbst ist da offener: "Du kannst in den Club gehen, tanzen und eine Pille nehmen, du musst es aber auch nicht." Und so sieht er es auch mit Sex. MDMA allerdings, eigne sich dagegen nicht, wenn es mehr als Gruppenkuscheln sein soll. "Dennoch musst du die Droge kontrollieren, und nicht die Droge dich", findet Klaus.

Immer wieder ein Gesprächsthema. Foto von der Autorin

Zugenommen haben in letzter Zeit Überdosierungen mit dem auch zum KO-Tropfen taugenden G. Diese sind lebensgefährlich. "G ist (eigentlich) wirklich schlecht, aber das Gefühl ist wirklich gut, wenn man es richtig nimmt", erzählte Geovane Pedro De Bortoli, einer der Veranstalter der Partyreihe "TrashEra", bereits vor einem Jahr VICE. Auf deren Veranstaltungen nehmen Gäste immer wieder die Tropfen. "Man muss sich viel um die Leute kümmern und teilweise anderthalb Stunden in der Toilette verbringen, weil Leute zusammenbrechen und niemand es sehen darf", so Geovane.

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Berliner Clubs und Partyreihen sprechen sich auch deshalb vermehrt gegen "Liquid Extasy", wie G auch genannt wird, aus. Bei der "Gegen" wurde sie vor Kurzem verboten. Aber auch in Städten wie Leipzig ist die Droge am Kommen.

Und es gibt Chemsex, Sex auf Crystal Meth. Er ist vor allem in der schwulen Szene beliebt. (Die Verbreitung unter Heteros ist geringer, sie greifen eher auf Ketamin oder Kokain zurück.) Chemsex findet im Privaten statt, auf Gruppensexparties. Tina, wie das Crystal Meth auch genannt wird, wird intravenös konsumiert oder geraucht. Eine Szene, die wächst. Das Magazin Zitty widmete ihr im Februar eine Titelgeschichte. In Großbritannien fürchtet man durch die Kombination von harten Drogen und ungeschütztem Verkehr eine zweite HIV-Welle. Im April fand zum Thema ein ChemSex-Forum in London statt, das im September 2017 nach Berlin kommen soll.

"Let's Talk About Sex and Drugs"

In der deutschen Hauptstadt saßen bereits kürzlich einige Schwerpunktpraxen, darunter auch die von Christiane Cordes und Martin Viehweger, mit Initiativen wie manCheck und der Berliner Aids-Hilfe sowie Betreibern von Clubs wie dem Boiler, SchwuZ und Berghain an einem Tisch. Das Thema: Wie kann eine bessere Aufklärung im Bezug auf Drogen und Sex aussehen? Ein Schritt in diese Richtung ist die Reihe "Let's Talk About Sex and Drugs", Berliner Nachfolgerin der Londoner "Let's Talk About Gay Sex and Drugs". Hier will man Menschen einen geschützten Raum geben, um über ihre persönlichen Erfahrungen mit Sex und Drogen zu sprechen. Man bildet sich gegenseitig fort. Eingeladen wird dazu in regelmäßigen Abständen von der Travestiekünstlerin Pansy. Letzte Woche etwa fand die Gesprächsrunde im Musik und Frieden statt.

Annabelle*: "Wir sagen unseren Freundinnen: Immer mit Kondom!" Foto von der Autorin

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Und auch wenige hundert Meter weiter macht man sich so seine Gedanken über Safer Sex, Drogen und Feiern. "Wir reden nie groß über HIV, aber wir sagen unseren Freundinnen: Immer mit Kondom! Wir haben einen Freund und fühlen uns sicher, weil wir mit niemand anderen sexuellen Kontakt haben", sagen Annabelle*, 20, und Ingrid, 21*, die ich vorm Matrix treffe. Über Marijuana wissen sie Bescheid, aber über härtere Drogen nicht. Aufklärung fand in der Schule statt.

"Vielleicht liegt es daran, dass wir noch relativ jung sind und nicht zu den Menschen gehören, die sich jedes Wochenende jemand neuen ran holen," sagt Agata*, 18. Sie kommt aus Brandenburg. AIDS ist auch bei ihr kein Thema, und Drogen nur indirekt. "Über die Schule hat man leichten Zugang zu Gras, Pilzen, aber auch Synthetischem. Man weiß, wer, wie, wo ran kommt. Es ist fast leichter, als es nicht zu nehmen."

Berlin will Aids bis 2030 beenden

Das heißt dennoch nicht, dass HIV/Aids damit weniger bedrohlich wären. Berlin hat sich gerade selbst zur "Fast-Track City" erklärt. Bis 2030 will man die "Aids-Epidemie" in der Stadt beendet haben. Jens Petersen, Mitarbeiter der Berliner Aids-Hilfe e.V. sieht auf dem Weg dahin allerdings noch allerhand Handlungsbedarf: "Wir könnten mehr Tests anbieten, wenn wir nur mehr Personal hätten."

Innerhalb von nur einer halben Stunde kann ein Schnelltest eine Infektion ausschließen. Getestet wird das Vorhandensein von HIV-Antikörper. Allerdings muss der letzte Risikokontakt mindestens zwölf Wochen zurückliegen, um ein sicheres Ergebnis zu haben. So oder so, immer mehr Leute lassen sich testen. Und das ist wichtig, denn hohes Risiko geht vor allem von den Menschen aus, die nichts über ihre Krankheit wissen.

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Und was, wenn du nun positiv bist?

"Das große Sterben hörte 1996 mit der Einführung der antiretroviralen Kombinationstherapie auf", erklärt Petersen. HIV-positive Menschen haben heute, wenn sie ihre Immunschwäche rechtzeitig behandeln, eine fast normale Lebenserwartung. Sogar eine Geburt mit einer HIV-positiven Mutter kann unter medizinischer Betreuung gut verlaufen und das Risiko einer Mutter-Kind-Übertragung von HIV eingedämmt werden.

Dass eine HIV-positive Person nicht gefährlich für die Gesellschaft ist, ist ein Schlüsselthema.

Doch es muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. "Viele Leute, mit denen wir in Clubs über Aufklärung sprechen, haben Angst vor einer oralen Infektion. Doch der Hauptübertragungsweg bleibt die Penetration, das heißt über Anal- oder Vaginalverkehr ohne Kondom," sagt Simone*. Er engagiert sich bei manCheck, einem Gesundheitsteam für schwulen Sex. Vor vier Jahren hat Simone selbst von seiner positiven Diagnose erfahren. Heute ist seine HI-Viruslast im Blut dank der medizinischen Behandlung unter der Nachweisgrenze. Simone kann den Virus nicht mehr übertragen. "Dass eine HIV-positive Person nicht gefährlich für die Gesellschaft ist, ist ein Schlüsselthema", sagt er heute.

Ohnehin ist die Angst vor HIV zurückgegangen, "weil die Leute nicht mehr fürchten müssen, innerhalb weniger Jahre zu sterben, wie es in den 80ern der Fall war", findet Martin*. "Doch nach wie vor gibt es eine Stigmatisierung von HIV-positiven Menschen und es ist nach wie vor nicht leicht, sein Coming-out zu haben." Martin ist 29, beschreibt sich als sexuell aktiven schwulen Mann. Ein Ex-Freund von ihm hat sich angesteckt und dann geoutet.

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Doch ob man(n) weiterhin als Person akzeptiert wird, hängt vor allem vom Freundeskreis ab, so Martin. "Die queere Szene schreibt sich auf die Fahne, dass Solidarität sowohl für Minderheiten als auch untereinander eine große Rolle spielt, doch wenn es ums Daten geht oder wie es wäre, mit einem HIV-positiven Mann zusammen zu sein, gibt es noch viele Vorbehalte." Aber es gibt auch neue Vorbeugemaßnahmen.

Kann PrEP zu mehr sexueller Freiheit bei gleichzeitiger Prävention führen?

Seit Oktober 2016 ist in Deutschland Truvada, eine Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP) zugelassen. Sie schützt HIV-Negative vor einer Ansteckung. In Deutschland kostet die Dauermedikation 820 Euro pro Monat. "HIV ist kein Todesurteil mehr. Dennoch ist es meine Verantwortung, auf mich achtzugeben. Ich mache das, in dem ich PrEP nehme", sagt Pansy von "Let's Talk About Sex and Drugs". Aber auch sie spürt Vorurteile: "Auch hier gibt es HIV-Shaming. Wenn du Truvada nimmst, wirst du (für andere) zur Truvada-Hure", obwohl man nur sich und andere damit schützen wolle.

Pansy bietet mit ihrer Veranstaltung "Let's Talk About Sex and Drugs" der queeren Community einen Safe Space, um über Sex zu reden. Foto mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin

Die Aids-Hilfe empfiehlt PrEP jenen Menschen, die Probleme mit Kondomen haben, also Menschen, die ohnehin kondomlosen Sex haben würden. PrEP ist aber auch für Menschen, die einem erhöhten Risiko durch einen HIV-positiven Partner oder durch den Beruf als Sexarbeiterin ausgesetzt sind. Angesichts der hohen Kosten für die Therapie suchen manche Auswege und beziehen illegal Präparate, die in vielen Ländern günstiger als in Deutschland sind.

Und es bleibt wichtig festzuhalten: Aids ist kein schwules, es ist ein weltweites Problem. Auch bei Frauen mehren sich die HIV-Infektionen, die häufig erst spät erkannt werden. Sie werden "Late Presenter" genannt, da Ärzte oft nicht mit einer HIV-Infizierung rechnen, bis sie dann doch entdeckt wird.

2015 gab es in Deutschland geschätzte 460 Todes­fälle bei HIV-Infizierten—ein Grund, zu reden.

Wer häufig Sex mit wechselnden Geschlechtspartner*innen hat, dem wird empfohlen sich jedes halbe Jahr auf übertragbare Infektionen untersuchen zu lassen. Ein HIV-Test kostet zwischen 0 bis etwa 50 Euro. In den Gesundheitszentren und Beratungsstellen können sie anonym durchgeführt werden und sind in Köln oder München kostenlos, in Berlin zahlt man 10 Euro.

*Name von der Redaktion geändert

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