Politik

Freiluftkino und Therapeuten: So wollen die Grünen die Stimmen junger Menschen kriegen

Wir haben nachgefragt, wie realistisch die Vorschläge sind.
Eine Gruppe Jugendlicher in Köln auf der Achterbahn. Die Grünen-Politikerinnen Jamila Schäfer und Ricarda Lang wollen, dass junge Leute künftig bevorzugt behandelt werden, wenn es um Corona-Maßnahmen geht.
Foto: IMAGO / Jochen Tack

Wenn es eine Gruppe gibt, die während Corona vernachlässigt wurde, dann waren es die Jungen. Das finden zumindest Jamila Schäfer und Ricarda Lang. Die beiden sind stellvertretende Bundesvorsitzende der Grünen und haben ein Papier veröffentlicht, in dem sie einigermaßen konkrete Maßnahmen fordern, um die junge Generation wieder auf die politische Agenda zu setzen.

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In dem Papier, das aus fünf Punkten besteht, geht es um eine Bafög-Reform, eine Initiative zugunsten psychischer Gesundheit, mehr politische Teilhabe, Zugang zu Kultur- und Freizeitangeboten und allgemein den Wunsch, dass die Jugend künftig zuerst bedacht wird, wenn weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beschlossen werden.

VICE konnte das Papier exklusiv einsehen und mit Jamila Schäfer darüber sprechen.


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VICE: Ihr sagt, in der Coronakrise wurde zu wenig über die junge Generation gesprochen. Wie kommst du darauf?
Jamila Schäfer:
Neulich schrieb mir ein 19-jähriger Vater auf Instagram. Er habe eine anderthalbjährige Tochter und sei alleinerziehend. Durch Corona seien sein Nebenjob und der Kitaplatz seiner Tochter weggefallen – und das, obwohl er eigentlich gerade anfangen wollte zu studieren. 

Nun wollte er von mir wissen, ob die Politik etwas an seiner Situation verändern könnte, ob es mehr finanzielle Hilfen geben würde für Leute wie ihn. Das hat mich sehr berührt und ich hatte auch seine Geschichte im Kopf, als ich an dem Papier schrieb.

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War die Coronazeit nicht für alle, egal welchen Alters, ungerecht und schwierig?
Ja, die Zeit war für alle Menschen belastend. Über die Freiheitsverluste für die junge Generation haben wir viel zu wenig gesprochen. Dabei fielen sie in eine wichtige Lebensphase, in der die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Viele Studienanfängerinnen und -anfänger haben noch nie einen Hörsaal von innen gesehen. Nebenjobs und Praktikumsplätze sind weggefallen. Viele hatten Schwierigkeiten, ihre monatlichen Kosten zu decken, für andere sind Zukunftspläne geplatzt. Es geht nicht nur darum, dass diese Leute nicht saufen gehen konnten. Mit den Konsequenzen werden die Jugendlichen und die gesamte Gesellschaft noch länger zu tun haben.

Jetzt habt ihr als stellvertretende Vorsitzende der Grünen ein Papier mit fünf Forderungen veröffentlicht. Was ist das Ziel dahinter?
Einerseits wollen Ricarda Lang und ich noch mal klar machen, mit welchen Auswirkungen Jugendliche und junge Erwachsene während und nach der Pandemie zu kämpfen haben und hatten. Andererseits schlagen wir ganz konkrete politische Maßnahmen vor, die wir in einer Regierung umsetzen möchten.

OK, aber viele Punkte stehen bereits in eurem Wahlprogramm. Was ist an dem Papier neu?
Es geht in erster Linie darum, eine Debatte über Generationengerechtigkeit anzustoßen – ein Thema, das aktuell zu kurz kommt. Es stehen aber auch Vorschläge in dem Papier, die über unser Programm hinausgehen: Wir fordern zum Beispiel einen Jugendgipfel, bei dem Betroffene in die Diskussion über politische Maßnahmen eingebunden werden. 

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Wir machen auch niedrigschwellige Angebote für Kinder und Jugendliche: Wir wollen die Impfungen dahin bringen, wo die jungen Menschen sind, in Schulen und Universitäten etwa. Und wir fordern einen Kulturpass in Höhe von 300 Euro für alle unter 25 Jahren. 

Diesen Kulturpass soll man für "Freiluftkinos, Open Airs, Museen, Theater, Kunstworkshops etc." nutzen können. Das richtet sich also an ein sehr exklusives, bildungsbürgerliches Publikum?
Ich glaube nicht, dass sich nur bestimmte Menschen für Freiluftkinos, Kunst und Museen begeistern können. Das sehe ich anders. Es geht doch  darum, dass der Besuch einer Ausstellung oder eines Open Airs nicht am Geldbeutel scheitert. Was genau sich die Leute dann ansehen, können sie nach Lust und Laune selbst aussuchen

Aber junge Menschen sind nun einmal sehr unterschiedlich. Gibt es denn überhaupt etwas, das die "junge Generation" verbindet?
Solidarität. Meine jüngere Schwester hat während Corona Abitur gemacht. Ich sehe bei ihr, aber auch in meinem Umfeld, dass sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammengerissen haben, um die Kontaktbeschränkungen durchzuhalten, um Risikogruppen zu schützen. Sie haben sich gegenseitig Tipps zum Homeschooling gegeben, zu Online-Vorlesungen oder einfach dazu, wie sie diese Zeit in Isolation überstehen. Und diese Generation eint die Frustration darüber, wie sehr ihre Perspektive vernachlässigt wurde.

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Du bist 28. Ist das noch jung?
Na ja, als Politikerin gilt man ja als jung, bis man über 40 ist. 16-Jährige würden mich eine alte Knackerin nennen. Auf jeden Fall bin ich näher an der Lebensrealität von Studierenden oder Auszubildenden und jüngeren Leuten als die aktuelle Bundesregierung. 

Weil du noch studierst?
Ja, weil viele meiner Freundinnen und Freunde noch studieren und ich auch noch an meiner Abschlussarbeit schreibe. Die musste in letzter Zeit warten, ich bin hauptsächlich Politikerin.

Eine eurer Forderungen ist eine Reform des BAföG. Was ist da der Plan?
Zunächst einmal sollen alle Studierenden und Auszubildenden ganz unbürokratisch einen gewissen Grundbetrag bekommen. Darauf soll dann – perspektivisch elternunabhängig – ein zusätzlicher Betrag kommen, je nach Bedarf. 

Wie viel Geld soll das denn sein – eher 50 Euro oder 1.000?
Das möchten wir gerne als Teil der nächsten Bundesregierung klären. Jetzt wollen wir erst mal die Diskussion darüber anstoßen. 

Alle bekommen also Geld, ob sie es brauchen oder nicht. Und wer es braucht, wie Bafög-Empfänger, muss noch mal bürokratisch einen Antrag stellen?
Es ist eine extreme Belastung, immer wieder Anträge stellen zu müssen. Aber wenn man schon einen gewissen Grundbetrag bekommt, hat man weniger finanziellen Druck, nebenbei viel arbeiten zu müssen und mehr Luft für die Beantragung. Wir müssen trotzdem dafür sorgen, dass Gerechtigkeit hergestellt wird und nicht alle den Höchstbetrag ausbezahlt bekommen.

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Corona hat, davor warnen Bildungsforscher, die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von sozialer Herkunft erhöht. Damit Kinder und Jugendliche mehr erreichen als ihre Eltern, reicht eine Finanzspritze für Studierende aber nicht?
Ja, das stimmt auf jeden Fall. Eine Priorität in unserem Wahlprogramm ist, Schulen besser auszustatten, weil es da vorne und hinten mangelt: an Infrastruktur und pädagogischem Personal. Mehr Investitionen in die Schulen können helfen, den unterschiedlichen Bildungszugang in den Elternhäusern auszugleichen. 

Du sagst, die Politik engagiere sich nicht genug für junge Menschen. Junge Menschen interessieren sich aber auch nicht so sehr für Politik - und haben von allen Altersgruppen die geringste Wahlbeteiligung.
Etwa die Hälfte der Jugendlichen fühlt sich von der Politik nicht ernst genommen, das ist ein Armutszeugnis für die Politik. Wir müssen jungen Menschen erklären, wie sie sich in den demokratischen Diskurs einbringen können. Es reicht nicht, ihnen in der Schule beizubringen, was Gewaltenteilung ist und wann welche demokratische Revolution stattfand. 

Das Gefühl der Ohnmacht bei jungen Menschen ist Produkt eines Bildungssystems, das nicht vermittelt, was Demokratie praktisch heißt. Wie kann ich überhaupt meine Stimme erheben und mich dafür einsetzen, dass sich etwas ändert? Das ist eine Frage der politischen Bildung und Kommunikation, die sich mehr an der Lebensrealität junger Menschen orientieren muss. 

Angenommen, die Grünen wollen nach der Wahl regieren: Welcher Punkt des Papiers ist dir so wichtig, dass du dein Veto gegen eine Koalition einlegen würdest, wenn er nicht im Koalitionsvertrag auftaucht?
Das ist natürlich immer die große Fangfrage. Mir ist wichtig, dass wir das Gesundheitssystem so verbessern, dass es mehr psychologische Angebote gibt. 

Im Papier fordert ihr leichteren Zugang zu Erstgesprächen durch eine Art Hilfetelefon. Psychotherapien in Privatpraxen sollen durch die Krankenkassen übernommen und mehr Therapeuten zugelassen werden.
Ja, und das ist nicht nur für junge Leute wichtig. Das System sollte sich mehr nach den Bedürfnissen der Menschen ausrichten. Wenn das nicht Teil eines Regierungsprogramms wäre, fiele es mir schwer, mein Approval unter die Koalition zu setzen. Und die Klimafragen natürlich, weil wir nur dann eine Zukunft haben, wenn wir unsere Lebensgrundlagen retten.

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