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Politik

Warum de Maizières Leitkultur-Thesen gefährlich sind

"Wir sind nicht Burka", sagt der Innenminister. Stimmt. Wir sind auch nicht BH oder Hose. Lustig sind seine Thesen trotzdem nicht. De Maizières Politik macht Deutschland Stück für Stück zum Überwachungsstaat.
Foto: imago | Christian Mang

"Wir sind nicht Burka", hat unser Innenminister am Sonntag festgestellt. Recht hat er. Wir sind nicht Burka. Wir sind auch nicht BH. Oder Jogginghose.

Nur: Wo hat der gute Mann bloß diesen Straßenslang her? "Wir sind keine Burka", würde man wohl in korrektem Deutsch sagen. Beziehungsweise: "Wir sind keine Burkas."

Prinzipiell stimmt das natürlich: Menschen sind keine Kleidungsstücke. Und mit dieser Feststellung könnten wir uns abwenden und uns den wichtigeren Fragen des Lebens widmen.

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Könnten wir. Können wir aber nicht.

Weil Innenminister Thomas de Maizière (CDU) diesen Satz ohne Inhalt zur "deutschen Leitkultur" ausgerufen hat, zusammen mit noch ein paar anderen Provokationen, in der Bild am Sonntag. Und weil die "deutsche Leitkultur" und die Frage, wie unser Innenminister sie sich so vorstellt, natürlich die Zeitungen interessiert und das Fernsehen und überhaupt viele Menschen hierzulande. Und weil wir deswegen jetzt tatsächlich eine Debatte in Deutschland haben über die Frage, ob wir Burka sind.

Das könnte lustig sein. Wenn es eine spezifische Eigenschaft der Deutschen ist, nicht Burka zu sein, was sind dann die Italiener? Und wenn es zur Deutschen Leitkultur gehört, seinen Namen zu sagen und sein Gesicht zu zeigen, bedeutet das dann, dass die Kennzeichnungspflicht für Polizisten bundesweit eingeführt wird?

Aber eigentlich ist der Leitkultur-Vorschlag von de Maizière nicht lustig. Er ist perfide. Und er funktioniert.

Denn: Ich glaube nicht, dass es de Maizière um Burkas geht. Das wäre auch Unsinn – es gibt so gut wie keine Burka-Trägerinnen in Deutschland. Ihm geht es auch nicht um "aufgeklärten Patriotismus" oder überhaupt um "Leitkultur". Ihm geht es um die Debatte.

Die ist wichtig für den Wahlkampf. Die Wähler am rechten Rand sollen wissen, dass es in Deutschland keine AfD braucht, die CDU ist rechts genug. Aber ich glaube, das ist nicht alles: De Maizière möchte die Diskussion, um in ihrem Schatten seine Politik durchzusetzen – eine Politik der lückenlosen Überwachung und des "starken Staates". Und egal, ob links oder rechts. Jeder Diskussionsbeitrag zu Sinn und Unsinn seines Leitkultur-Vorschlags hilft ihm dabei.

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Wenn ich sage "Denke jetzt nicht an einen gelben Elefanten", dann sieht jeder sofort einen gelben Elefanten vor sich. Und ich glaube, das ist das Prinzip, nach dem de Maizières Leitkultur-Debatte funktioniert: Auch wenn ich "Wir sind nicht Burka" rassistisch finde, auch wenn ich einen brennenden Kommentar darüber schreibe, dass man Muslime nicht mit Islamisten gleichsetzen sollte – auch dann bleibt das Bild von der Frau mit Burka und ihrem Ehemann, dem unterdrückenden, bärtigen Islamisten in meinem Kopf. Weil ich über sie gesprochen habe.

De Maizières gelbe Elefanten sind die radikalen Muslime. Und je öfter wir über sie reden, desto stärker wird das Bild in unserem Kopf: Bedroht werden wir von der Burka, von der Scharia, von dem Islamismus.

Und wenn die große Gefahr die radikalen Muslime sind, dann brauchen wir natürlich mehr Abschiebungen. Dann brauchen wir mehr Überwachung, härtere Gesetze und mehr Polizei.

Der Innenminister schreibt: "Nicht jeder, der sich für eine gewisse Zeit in unserem Land aufhält, wird Teil unseres Landes," Oder: "Unser Land ist christlich geprägt." Und es herrsche "der unbedingte Vorrang des Rechts über alle religiösen Regeln". Aber darum, diese Thesen auszudiskutieren, darum geht es dem Minister gar nicht. Denn er erzeugt eine Assoziation, die jede Debatte über deutsche Identität überlagert und unmöglich macht. Die Assoziation: wir gegen die. Wir Deutschen gegen die Zuwanderer, die Muslime, die unsere "Leitkultur" und unser Recht infrage stellen. De Maizière gibt vor, eine Debatte anstoßen zu wollen und wählt dafür Bilder, die jede vernünftige Debatte von Anfang an zunichte machen.

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Solche Debatten kommen spätestens nach drei Minuten bei dem Argument an, dass man den Islam doch nicht mit Islamismus gleichsetzen kann. Und schwupps redet man schon wieder über – Überraschung! – Islamismus. Und dann kann der andere gleich hinterherschieben, dass richtige Islamisten natürlich schon ein großes Problem seien.

Und wenn der Bundestag dann einen Gesetzesentwurf beschließt, nach dem Menschen, ohne je eine Straftat begangen zu haben, dazu gezwungen werden können, Fußfesseln zu tragen, dann sollen wir vor unserem inneren Auge keinen Überwachungsstaat sehen, sondern einen verhinderten Terroranschlag. Wenn Messengerdienste wie WhatsApp überwacht werden sollen, dann dreht sich die Debatte nicht um eine Verletzung unserer Privatsphäre, sondern um chattende Islamisten. Und selbst bei der lückenlosen Videoüberwachung öffentlicher Plätze scheint es nicht mehr um uns zu gehen, sondern um flanierende Terroristen.

Als 2013 die Spionage der NSA öffentlich geworden ist, sind Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen Überwachung zu protestieren. Heute reden wir kaum noch darüber. Stattdessen reden wir über jene Themen, die de Maizières Politik gelegen kommen: die Verrohung unserer Gesellschaft, die überforderten Polizisten, die von Kriminellen herumgeschubst werden, und den islamistischen Terror. Und plötzlich ergibt die Überwachung, ergeben die harten Strafen, ergeben alle Maßnahmen des Innenministeriums vermeintlich Sinn.

Ich möchte nicht mit de Maizière darüber sprechen, ob wir Burka sind. Ich will darüber reden, wie die Neufassung des BKA-Gesetzes, das letzte Woche auf den Weg gebracht wurde, und das er in seinem Newsletter in so hohen Tönen preist, meine Grundrechte einschränkt.

Und wenn de Maizière gerne etwas gegen Verschleierungszwang tun möchte, dann könnte er ja seine vor einem Monat beschlossene Anordnung zurücknehmen, die das Zeichen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Deutschland verbietet. Die YPG bekämpft nämlich den Zwang zur Burka und den Islamismus. Und zwar effektiver als jede Scheindebatte über unsere "Leitkultur" das jemals könnte.

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