Musik als Therapie und Droge? So war es bei "Freak Pharmacy" im KitKat
Sam Bayliss Ibram

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Musik als Therapie und Droge? So war es bei "Freak Pharmacy" im KitKat

Die New Yorker Partycrew GHE20G0TH1K bewegt sich mit ihrer neuen Reihe zwischen Heilung und Zerstörung. Wir haben beim Berliner Gastspiel ihre Pillen probiert.

Organisatorin Venus X bei einer anderen Veranstaltung. Foto von Sam Bayliss Ibram

Glaube und Wissenschaft haben Musik immer therapeutische Qualitäten zugeschrieben. Von Pythagoras Harmonielehre bis hin zum Easy Listening – Musik dient nicht nur der Entspannung, sondern auch der Beschwichtigung der Seele. Für Ashland Mines, aka DJ Total Freedom, heißt Musiktherapie allerdings: die eigenen Dämonen umarmen. Nur so könne er seine Seele aus den Fängen des Teufels befreien. "Krach zu machen, hatte immer schon etwas Therapeutisches für mich", sagte er vor ein paar Monaten in einem Interview mit Dazed & Confused. Auch wenn manche das für eine ziemlich sonderbare Art halten mögen, um sich besser zu fühlen: Jeder Schamane wird sofort bestätigen, dass einer echten Reinigung intensives Leiden vorausgehen muss.

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So sieht das auch Jazmin Soto. Sie organisiert als Venus X Partys, die als "mentale Erfahrungen" angelegt sind. Sie sollen ein Desinteresse am Kapitalismus fördern, an der Kirche oder jeder anderen Form repressiver Institutionen. Die Rede ist von den "GHE20G0TH1K"-Events.


Aus dem VICE-Video-Netzwerk: Die "Beyond Clubbing"-Reihe von i-D:


Angefangen hat alles 2009 in einer kleinen Bar in Brooklyn mit etwas Musik aus Sotos iPod. Aber schon bald wurde die Party zu einem Underground-Imperium, bei dem ein Netzwerk marginalisierter POC-Queers mit unterschiedlichsten Freaks zusammenkam, um sich selbst von den Erfahrungen des Alltags zu reinigen. Seit diesem Jahr stehen die freitäglichen Veranstaltungen unter dem Titel "FREAK PHARMACY". Hier wird jungen Menschen eine ordentliche Dosis Ausschweifung und Extravaganz injiziert.

Und das nicht nur in New York: Ende Mai brachten GHE20G0TH1K "FREAK PHARMACY" nach Berlin. Um dem Setting der Party das angemessene Umfeld zu bieten, wählte Venus den berühmt-berüchtigten KitKat-Club als Veranstaltungsort. "Sieh es als eine Art Erholungsprogramm – du weißt nur nicht, ob es dich kränker machen oder stabilisieren wird", hieß von ihr dazu vorab.

Diese Warnung feuert die Neugierde der Nachtschwärmer aber natürlich nur weiter an. Sie alle waren auf der Suche nach ihrem Schuss Adrenalin. Das KitKat entpuppte sich tatsächlich als der perfekte Gastspielort für die New Yorker: Das phantasmagorische Setting kombinierte die Ausstrahlung eines düsteren Fetischkellers mit der Ästhetik von 90er Jahre Tribal Raves. GHE20G0TH1Ks Identität wurde hier mit offenen Armen empfangen, wenn nicht sogar aufgesogen. Lokal unterstützt wurde man zudem von TRADE. Und dann war da natürlich noch die Musik.

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Auf dem Main-Floor lieferten Asmara von NGUZUNGZU und Venus X dem tanzenden Publikum Synkopen satt – kolossale Beats und Schreie, ganz, wie du es auch auf ihrem Putaria Maxima-Mixtapes. Währenddessen schüttelte eine kleine Gruppe Raver ihre Extremitäten im Nebenraum. KitKat-Stammgäste waren zwar nur wenige vor Ort, dafür gab es aber umso mehr Musiker- und DJ-Kolleginnen und Kollegen, die sich das Event einfach nicht entgehen lassen konnten.

Die DNA von GHE20G0TH1K geht jedoch weit über die Musik hinaus und grenzt an einem Lifestyle. Dementsprechend übertrafen sich die Gäste optisch gegenseitig: XL-Hosen mit Patches, enge Latexstiefel, XXL Sport Jerseys und Leder-Harnesse waren überall. Und so wenig Stoff wollte bewegt werden: Es war ein Wettstreit der besten und der wildesten Booty-Moves.

Die medizinischen Anspielungen haben bei GHE20G0TH1K Tradition, wie dieser alte Flyer zeigt

Boychild, deren Auftritt erst in letzter Minute angekündigt worden war, ehrte das Publikum mit einer ihrer ikonischen Transitionen, während Total Freedom an die Decks ging. Ein Soundgarden-Cover war vielleicht das Letzte, was man an so einem Abend erwartet hätte, aber bei "Black Hole Sun" eskalierten selbst die hintersten Ecken des Raums.

Das Publikum schien bei dem Set zu einer großen zusammenhangenden Masse zu verschmelzen. Ein ultrafeinfühliger Kelela-Edit hätte jeden Raver aus dem noch so tiefen K-Hole erweckt. Und Total Freedoms Sets enden immer überraschend: entweder mit der Tirade einer religiös verblendeten Frau oder mit den entfesselten Klängen einer Höllenmaschine, die sich letztendlich als Ashland Mines selbst entpuppt, der wie besessen auf den Cue-Tasten seiner CDJs rumhämmert.

Als große Überraschung kam Lotic für ein spontanes B2B-Set zu Total Freedom ans Pult. Der Menge dürfte sein vielfältiger Einsatz des bekannten Masters at Work-"The Ha Dance"-Samples nicht entgangen sein. Abgespielt in wieder und wieder variierender Geschwindigkeit riss er einen damit in einen furchterregenden Trance-Mahlstrom. Lotic ausdrückte: "Es ist zur einen Hälfte selbstermächtigend und süß, und zur anderen Hälfte Terror."

Entweder reinigt dich so eine Nacht also tatsächlich von den Unterdrückungen des Alltags – oder sie lässt dich windend und schreiend auf dem Boden der Tatsachen zurück. Berlin jedenfalls hatte offensichtlich eine Reinigung nötig.

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