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Words

Es gibt kein ‚Revival’, Industrial-Techno war nie weg

Zu dieser Musik tanzt du, bis deine Nieren versagen.

Alle reden derzeit über dreckigen Industrial-Techno.

OK, das ist doch wunderbar. Es gibt immer mal wieder Phasen, in denen das Thema aufkommt: es begann mit Ancient Methods, dann erschien Blawan 2010 auf der Tanzfläche und legte noch eine Schippe drauf. Und inzwischen reicht es schon aus, dass Regis einen fahren lässt. Momentan dreht sich alles um Percs neues Album The Power & The Glory und um seine beeindruckenden Live-Shows zur Albumveröffentlichung—und endlich rückt bei diesen ganzen Diskussionen das Wichtigste in den Vordergrund: Es ist einfach großartige Musik, wenn du tanzen willst bis deine Nieren den Geist aufgeben.

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Nicht, dass irgendetwas verkehrt daran wäre, sich Techno—wie in letzter Zeit so oft geschehen—theoretisch zu nähern: mit besonderem Blick auf seine Außenseiterrolle, seine dystopischen Visionen, seine von Rost und Staub geschwängerte Atmosphäre und die vielen anderen Dinge. Das ist alles vollkommen legitim. Aber wenn es dabei bleibt, führt das dazu, dass man sich in immer mehr Clubs vorkommt wie auf einem konspirativen Treffen von Schulamokläufern—und nicht wie auf einer Party. Es ist einfach schön, mal wieder daran erinnert zu werden, dass dieses ganze Industrial-Ding in erster Linie dazu da ist, dir die Beats mit einem Vorschlaghammer in die Gehörgänge zu prügeln und deinen Körper in ekstatische Bewegung zu versetzen. Dieser theoretische Überbau kommt dann an zweiter Stelle—und das ist schon immer so gewesen, wenn du mal richtig drüber nachdenkst.

Neil Landstrumm, „Custard Traxx", Peacefrog, 1995

Um das Ganze in den richtigen Kontext zu setzen: Ich bin alt und verfeiert genug, um mich an die frühen 90er zu erinnern, als Lenny Dee, Beltram, Aphex Twin, Planet Core Productions, Frankie Bones, Adam X, DJAX-UP Records, Underground Resistance, DJ Producer, der abgefahre Cologne Acid —und viele, viele mehr—unter diesen einen Terminus ‚Rave' zusammengefasst wurden. Sogar Ritchie Hawtin gehörte dazu. Seine Projekte Cybersonik und FUSE machten auch nicht weniger Krach als alle anderen zu jener Zeit. Trotz des toternsten Ansatzes war dieses ganze Zeug genauso kreativ und verspielt, wie alles andere im Rave-Spektrum. Jeder Track konnte dich mit einer erfrischend neuen Art von Kickdrum-Verzerrung und fiesen Melodien total umhauen.

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Damals spielten harte Techno-DJs neben Breakbeat-Acts auf derselben Veranstaltung. Und sogar der spätere Proto-Jungle war extrem beeinflusst von den aggressiven Sounds aus Holland, Belgien, Deutschland und den USA. Als dann ungefähr '93 die Ausdifferenzierung der einzelnen Dance-Music-Sparten nicht mehr zu leugnen war, gehörte brutaler Techno zum Repertoire ganz normaler Raver und war noch lange nicht vereinnahmt von Informatik-Studenten mit teilrasierten Köpfen. Pure, The Orbit, Eurobeat 2000, Lost, Club 69, House Of God—nur um ein paar der größten britischen Clubs zu nennen—(zum Vergleich: Tresor und Bunker in Berlin, das Omen in Frankfurt, Warehouse in Köln) waren mit die wichtigsten und einflussreichsten Treffpunkte im ganzen Land, und obendrein gnadenlose Schweißmaschinen.

Die landläufige Geschichtsschreibung besagt, dass sich Club-Techno (buchstäblich) in uninspirierten Jeff-Mills-Klonen verrannte und gegen 1997 kreativ komplett am Boden war, um dann bis zum Aufkommen von Minimal nur komatös vor sich hin zu vegetieren. Es gab jedoch eine Menge Leute, die die Techno-Flamme weiterhin am Leben hielten—das konnte unglaublich beklopptes Zeug sein und/oder einfach unglaublich kreatives. Die Menschen, die ich kennen lernte, produzierten auch über den Jahrtausendwechsel hinaus wilde Musik und organisierten die ausgefallensten Partys: Sativa, Test, Coin-Operated, Monox, Plex, Bangface, I Love Acid, Ugly Funk—um jetzt nur die Vertreter in Großbritannien aufzuzählen. In Polen, der Ukraine, Skandinavien und Deutschland gab es natürlich auch zahllose Raves, und sie alle sorgten dafür, dass die Flamme weiterhin hell brannte—mit diesem komischen, chemischen Gestank.

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Lory D, „Acid Prastix", Numbers, 2011

Es ist auch nicht so, dass das Ganze so unüblich gewesen wäre. Die Hälfte von dem, was zu dieser Zeit unter Electroclash lief, war eigentlich Industrial-Electro-Techno—vor allem wenn du dir das anschaust, was im legendären Londoner Nag Nag Nag abging. 2003 veröffentlichte Jamal Moss gemeinsam mit Steven Pointdexter die wegweisende My Life as a Skinny Puppy-EP. Seitdem hat sogar ein angesagtes Label wie Numbers Platten von Dark-Techno-Gott Lory D veröffentlicht. Inzwischen hat Techno dankend die ganzen Einflüsse aus Dubstep, Grime, Northern Bassline, Electroclash, Warehouse Electro, Ghettohouse etc. aufgenommen, ohne dabei die Grundlagen seiner Identität zu verraten und sprudelt weiterhin voller Energie. Nebenbei sei für diejenigen, die gerade erst auf dieses Dancemania-Revival angesprungen sind und meinen, Fan der ersten Stunde zu sein, erwähnt: Es war die Hardcore-Techno-Szene, die diesen Sound immer schon mehr als alle anderen unterstützt hat.

Dafür spricht auch, dass Fun In The Murky (ein Teil von Bleep Radio) als wahrscheinlich größte Online-Drehscheibe für diesen Sound erst in den frühen 2000ern seinen Betrieb aufnahm. Und dass meine besten Partynächte der letzten Dekade im Ugly Funk und bei den Coin-Operated-Partys in nicht ganz so legalen Locations der schmuddeligen Ausläufer Londons stattfanden. Zum Vergleich: Das Ostgut öffnete auch erst 1999 seine Pforten. Ich denke, dass die Hype-Maschine sich zu der Zeit einfach andere Opfer suchte—erst Electroclash, dann Dubstep und Minimal, und als Musikjournalist habe ich da bestimmt meinen Teil zu beigetragen—aber eine wichtige Sache, die bei den ganzen Diskussionen über Dance-Music oft vergessen wird: Es geht nicht so sehr um den Impuls des Neuen, sondern um den Impuls des Jetzt. Um sechs Uhr morgens interessiert es einfach niemanden mehr, ob es diesen oder jenen Track in einer anderen Form schon einmal gab. Es zählt nur, ob die Musik es immer noch schafft, dein Hirn in Brei zu verwandeln. Harter, verzerrter Industrial-Techno ist diesem Anspruch einfach schon immer bestens gerecht geworden.

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Blawan, „Why They Hide Their Bodies Under My Garage?", Hinge Finger, 2012

Und—Ja—es ist auch wirklich toll, dass junge Produzenten wie Blawan (und Pariah, zusammen dann als Karenn) und Happa Musik machen, die sich anhört, als ob man „Chips aus Metall isst", wie mein Freund Bashford es so schön ausdrückt. Es ist auch großartig, dass die Leute sich wieder dafür interessieren und dass solche Musik inzwischen wieder auf großen Festivals und in Clubs angekommen ist. Aber bitte bringt das nicht durcheinander: Nur weil es gerade auf allen Kanälen rauf und runter läuft, heißt das nicht, dass hier gerade eine neue Bewegung auf dem Vormarsch ist. Es war schon immer da. Es gibt unglaublich viele großartige Veröffentlichungen auf Labels wie Don't, Ugly Funk, Horror Boogie, Rag & Bone etc., von Produzenten wie Neil Landstrumm, Michael Forshaw, Ben Pest, Jerome Hill, Paul Birken, Scott Robinson, Luke Sanger, TSR, Jason Leach (Subhead) und vielen mehr. Wenn dir wirklich etwas daran liegt, findest du sie auch.

Ibrahim Alfa veröffentlicht in einem Monat eine Compilation mit dem Namen Oyabun Trax Vol 1. Diese stellt junge, außergewöhnliche Produzenten aus ganz Europa vor, die den Spaß des elektronischen Schaffensprozesses und den richtigen Rave-Spirit mit einer Punk-as-fuck-Attitüde verbinden. Also genießt das neue Perc-Album und die Shows—sie haben es verdient. Aber wenn du das tust, versuch dich auch etwas tiefer in die Materie einzuarbeiten—und du wirst feststellen, dass dieser harte Stoff doch weiter verbreitet ist, als du denkt.

Joe Muggs schreibt gerne im Stil eines frustrierten alten Mannes. Folge ihm auf Twitter: @joemuggs