Der Komponist Richard Wagner, der Philosoph Arthur Schopenhauer und sein Kollege Friedrich Nietzsche interessierten sich für Cannabis
Cannabisinteressiert: Der Komponist Richard Wagner, der Philosoph Arthur Schopenhauer und sein Kollege Friedrich Nietzsche (v. L.) | Wagner und Nietzsche: IMAGO / Leemage Schopenhauer: IMAGO / Design Pics | Hintergrund: IMAGO / agefotostock | Collage VICE
Drogen

Die Deutsche Hochkultur wurde von Kiffern begründet

Historische Dokumente zeigen, dass Cannabis-Konsum im deutschen Bürgertum einst viel mehr normalisiert war als heute.

Es vergeht wohl kein Tag, an dem nicht irgendjemand mindestens einen Song übers Kiffen veröffentlicht. Alleine Rap ist voll davon. Dabei begleitet das Thema die Musik, Literatur und Kunst schon viel länger, als es Popkultur gibt. Vieles von dem, was heute als Hochkultur gilt, entstand im Cannabis-Dunst. Die Arbeit von Philosophen und Schriftstellern, aber wohl auch die Musik eines weltberühmten deutschen Komponisten.

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Richard Wagner (gestorben 1883) ist einerseits bekannt als Adolf Hitlers Lieblingskomponist, der 1850 unter Pseudonym den antisemitischen Aufsatz Das Judenthum in der Musik veröffentlichte. Aber er komponierte auch weltberühmte Werke der klassischen Musik wie "Ring der Nibelungen", "Götterdämmerung" und "Parsifal". Deshalb pilgern auch heute noch jedes Jahr Vertreter aus Gesellschaft und Politik zu den nach ihm benannten Bayreuther Festspielen. So weit so bekannt.

War Richard Wagner ein Stoner? 

Weniger bekannt ist, was ein Zeitzeugenbericht aus dem Oktober 1926 vermuten lässt: Indisches Weed könnte das Bayreuther Spätwerk Wagners beeinflusst haben. Dabei handelt es sich um ein Interview mit Wagners ehemaligem Dienstmädchen Emma im Magazin Der Querschnitt. Daraus zitiert im Oktober 1926 ein Artikel in Die Deutsche Frau, zu dieser Zeit eine deutschlandweit gelesene Wochenbeilage vieler Tageszeitungen.


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"Herr Wagner hat schon seit einigen Tagen an Atmungsbeschwerden gelitten. Dann wurde indischer Hanf angezündet, der einen wohlriechenden, süßen Dampf verbreitete", wird Wagners Dienstmädchen darin zitiert: "Er hatte sich das so angewöhnt, dass er eigentlich nur noch komponieren konnte, wenn der indische Hanf seine schönen dicken Wolken machte. Wenn man dann nach dem Komponieren in das Musikzimmer kam, um die Fenster aufzumachen, wurde einem ganz schwummerig davon zumute." 

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Über Wagners Ehefrau sagt Emma: "Die Frau Cosima war nicht sehr glücklich über den vielen indischen Hanf; sie meinte, zu viel davon ist schädlich. Aber der Herr Wagner widersprach, es sei nicht nur wegen dem Asthma, sondern er müsse die Wolken ganz einfach zum Komponieren haben." Emma, das bestätigt ein Vertreter des Bayreuther Richard Wagner Museums, war tatsächlich Dienstmädchen des Komponisten. 

Aber sie ist auch nicht die einzige Quelle für Wagners Weed-Konsum. Der deutsche Philosoph J.Köhler vermutete schon 1997 in seiner Wagner-Biografie, Der Letzte der Titanen, Wagner habe sich von Hanfprodukten inspirieren lassen.

In seinem Buch schreibt Köhler, Paul von Joukowsky, ein russisch-deutschen Bühnenbildner und Schriftsteller, der die Kostüme und vier der fünf Szenen für die Uraufführung von Wagners Oper Parsifal entworfen hatte, habe Hasch später als dessen Inspirationsquelle für Klingsors Zaubergarten genannt. Diesen Akt habe sich Wagner im Haschischrausch ausgedacht. 

"Wagner hatte ein Faible für Frauenkleider und Rauschdrogen", bekräftigt Köhler auf Nachfrage. Auch in seinem Buch beschreibt er detailliert, dass Wagner nicht nur in Hanfprodukten sondern auch im häufigen Genuss von Laudanum, also Opium, künstlerische Inspiration fand.

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Ein weiterer Hinweis auf Wagners Vorliebe für Rauschhanf findet sich in seinem Verhältnis zum deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer. Der habe Wagner empfohlen, Cannabis zur Entspannung zu konsumieren, schreibt der britische Wagner-Forscher William Ashton Ellis 1893. 

Schopenhauer habe dem Komponisten geraten, "die Form der geistigen Übung, die er bereits für sich entdeckt hatte, fortzusetzen, mit dem Zusatz eines gelegentlichen Krümels indischen Hanfs, wann immer er die Prüfungen der Welt zu unerträglich fand." Zwar sei das Ergebnis gewesen, dass Wagner keine Gedichte mehr schrieb, der indische Hanf "ihn aber zur sofortigen Abfassung von Skizzen für zwei große Werke anregte, von denen eines kurz darauf als 'Tristan und Isolde' vollendet wurde und das andere später - wenn nicht direkt, so doch durch eine leichte Metamorphose - in das religiöse Drama 'Parsifal' überging. […]."

Last but not least kannte der Philosoph, Wagner-Freund und Bewunderer Carl Friedrich Nietzsche die beruhigende Wirkung von Haschisch und erwähnte beide in seinem berühmten Zitat: "Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nöthig." Ob Nietzsche selbst auch manchmal Haschisch nötig hatte, ist jedoch bislang historisch nicht belegt.

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Kiffen im Kaiserreich: Legal und exotisch

Aber wie ungewöhnlich war es eigentlich Ende des vorletzten Jahrhunderts, im Rauch von indischen Hanfprodukten die Gedankengondel anzuschieben? 

Ludwig Pietsch weiß mehr. Der 1911 verstorbene Berliner Maler, Kunstschriftsteller und Feuilletonist beschreibt in seinem 1893 erschienen Werk Wie ich Schriftsteller geworden bin, einen entspannten Haschisch-Abend im Haus des SPD-Gründervaters Ferdinand Lassalle. Mit dabei: Der Musiker Hans Bülow, der Publizist Franz Duncker und der Journalist Ernst Dohm.

Demnach ließ Lassalle bei einem Herrenabend im Jahr 1858 statt Essen und Getränken gestopfte lange türkische Pfeifen verteilen, "auf deren glimmenden Tabak er Pastillen aus Haschisch legte". Der Deutsche Ägyptologe Heinrich Brugsch–Pascha habe diesen frisch aus Persien besorgt: "Lassalle selber versagte sich den Genuss, dies orientalische Narkotikum zu rauchen und dessen oft so glühend geschilderte wundersame Wirkung auf Gehirn und Nerven an sich selber zu erproben. Er wollte den Kopf frei behalten, um die Vorgänge zu beobachten und zu Studieren, die das Einsaugen des Haschischaromas bei jedem einzelnen zur Folge haben würde", schildert Pietsch. 

Auch beim Festmahl nach dem Trip sei die Gruppe von der Wirkung angetan gewesen: "Irgendein unangenehmer katzenjämmerlicher Zustand, wie nach dem Opiumrausch, blieb zu unserer Überraschung nicht zurück. Der Abend schloss mit einem Nachtessen und einer langen Sitzung beim Wein in einer, durch keine üblen Nachwirkungen getrübten, durch das eben Erlebte aufs angenehmste erregten Stimmung."

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Wie Cannabis in deutsche Rauchersalons und Apotheken kam

Auslöser für die Neugier des europäischen Bürgertums auf Cannabis waren wohl Berichte der Pariser Bourgeoisie der 1840er Jahre. Der Pariser Psychiater Jacques-Joseph Moreau hatte 1844 den "Club des Hachichins" gegründet, dem später neben dem Schriftsteller Charles Baudelaire unter anderen dessen Kollegen Gustave Flaubert, Alexandre Dumas und Honoré de Balzac sowie die Maler Honoré Daumier und Eugène Delacroix, angehörten. Die Honoratioren der bürgerlichen Gesellschaft trafen sich von 1844 bis 1849 zu Haschisch-Sessions, um ihre Rauscherlebnisse später wissenschaftlich, literarisch oder künstlerisch zu verarbeiten. 

Auch die Grundlagen für medizinisches Cannabis wurden zu dieser Zeit in Paris erforscht. 1849 berichtete die deutsche Vierteljahrschrift für die praktische Heilkunde über die Forschungsergebnisse des  Arztes und Moreau-Schülers Edmond DeCourtive: "D. schließt nach Versuchen an sich selbst und anderen, dass das Haschisch als narkotisches und betäubendes Mittel bei Nervenleiden und in den letzten Stadien von Krebsübeln sehr anwendbar sei. […] D. Räth, das Cannabis-Harz in den Arzneischatz aufzunehmen."  

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Diese Empfehlung war die Grundlage für zahlreiche Cannabis-Produkte, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts, meist in Form von Kräuterzigaretten oder Tinkturen in Berliner, Wiener oder Pariser Apotheken auslagen. Die österreichische Kaiserin Sissi soll von ihrem Arzt ab Januar 1872 mehrere Rezepte für Cannabis-Pulver erhalten haben. Die medizinische Anwendung von Cannabis zielte selten auf Schmerzlinderung, dafür gab es Kokain und Opium aus den Kolonien. Cannabis wurde meist gegen Asthma oder sogenannte seelische Verspannungen verschrieben. Auch Sissi nahm nicht nur Cannabis ein, sondern spritzte auch Kokain.

Indischer vs. Deutscher Hanf

Indischer Hanf und Haschisch waren untrennbar mit der bürgerlichen Begeisterung  für den Kolonialismus verbunden. Kolonialwarenhändler importierten den guten Stoff, der Rausch galt als exotisch-geheimnisvoller Bestandteil eines bewunderten Kulturkreises, dem Orient. 

Für die meisten Deutschen waren teure Importwaren wie Cannabis Indica oder Haschisch allerdings unerschwinglich. Die breite Masse musste sich mit dem wenig psychoaktiven Knaster oder Starker Tobak begnügen. Dieser bestand aus Faserhanf-Blüten. Deren THC-Gehalt konnte mit 0,2 bis 2 Prozent durchaus höher als bei heutigem EU-Nutzhanf sein und somit auch ein wenig psychoaktiver als heutiges CBD-Weed wirken. 

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Auch dieses THC-arme Cannabis beeinflusste deutsche Literaten. Wilhelm Busch musste beim Verfassen seiner Kurzgeschichte Der Krischan mit der Pipe mit der möglichen Rauschwirkung von Nutzhanfblüten wenigsten vertraut gewesen sein. Seine authentische Schilderung von Krischans Knaster-Rausch legt auch nahe, dass Busch vorm Verfassen der Geschichte auf eigene Weed-Erfahrungen zurückblicken konnte. 

Weed in der Werbung

Haschisch und andere Produkte aus Indischem Hanf waren in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts in den meisten europäischen Metropolen zwar erhältlich, ihr Konsum war in bürgerlichen Kreisen insgesamt jedoch weniger verbreitet als der von Opium und Kokain. Das heißt aber nicht, dass Gras- oder Haschdealer auf Werbung verzichten konnten. So warben österreichische Tageszeitungen seit den 1870er Jahren massiv für "Indische Cannabis-Cigaretten", die zur Behandlung von Asthma oder Schlaflosigkeit die "überraschendsten Wirkungen ausüben". Auch 1912 wirbt die Illustrierte Kronen Zeitung noch für "beruhigende" und "schmerzstillende" Hanf-Zigaretten.

In der Weimarer Republik wurden Cannabis und Haschisch 1929 als Folge der Opiumkonferenzen verboten. Die medizinische Anwendung blieb allerdings erlaubt und unterlag weitaus weniger strengen Regeln als heutzutage. Genau wie zu Kaisers Zeiten handelte es sich bei den Cannabis-Freunden der 1920er Jahre meist um Maler, Musiker oder Schriftsteller. 

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Der deutsche Schriftsteller Walter Benjamin übersetzte die Werke Baudelaires und Balzacs ins Deutsche. Darunter auch jene, in denen es um Gras oder Hasch ging. Und er fing selbst mit Haschischexperimenten an. Zusammen mit den Berliner Medizinern Ernst Joël und Fritz Fränkel beschäftigte sich Benjamin intensiv mit der Rauschwirkung von Cannabis. Der deutsche Philosoph Ernst Bloch war unregelmäßiger Gast dieser Runde.

Anders als Baudelaire und Balzac nahmen die vier allerdings kein Haschisch, sondern eine Cannabistinktur der Firma Merck zu sich. Mal experimentierte Benjamin mit Fränkel, mal mit Joël, manchmal mit beiden, seltener mit dem noch jungen Bloch. Während Joël und  Fränkel als Pioniere der Suchtmedizin vor allem medizinisch-wissenschaftliche Ziele verfolgten, hatten die Philosophen Benjamin und Bloch eher einen erkenntnistheoretischen Ansatz.

Als die Nazis wüten, verschwindet Cannabis

Eine genaue Auswertung der Ergebnisse ihrer Experimente wird es nie geben, da die Nazis die Protokolle der vier deutschen Kiffer-Pionieren vernichteten. Anders als heute war deren Cannabis-Konsum zu Kaisers Zeiten und in der Weimarer Republik weder das Pendant zum Feierabendbier noch eine Art Lebenseinstellung. Kiffen hatte viel eher experimentellen Charakter, besonders unter Kreativen, um Inspiration zu finden oder Grenzerfahrungen zu sammeln. 

Dann kamen die Nazis, Deutschlands Freigeister flohen oder wurden ermordet. War Cannabis seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Randerscheinung in bürgerlichen Kreisen, verschwand es mit den Nazis ganz aus dem öffentlichen Leben und den historischen Quellen. Das änderte sich auch in der jungen Bundesrepublik Deutschland nicht. Bei den Rauschgiftfahndern des Bundeskriminalamts standen Opiate ganz oben auf der Liste, Cannabis und Haschisch waren selbst unter Drogenusern immer noch eine Randerscheinung. Das BKA hielt Weed eher für ein US-Phänomen und schreibt 1956 in rassistischer Weise über die Gefahren von Cannabis: 

"In den USA wurde festgestellt, daß bereits Schulkinder dem Laster des Marihuana-Rauchens frönen, und in manchen Schulen sollen 40 % Weiße und 90 % der N**** dieser Sucht verfallen sein." Außerdem sei es günstig, leicht verfügbar und werde von einem "völlig neuen Typ des Rauschgiftsüchtigen" konsumiert: Während die Süchtigen der 'Weißen Drogen' gewöhnlich über 30 Jahre alt sind, sind die dem Marihuana Verfallenen wesentlich jünger." Außerdem gebe es "erschöpfendes Beweismaterial" dafür, dass vor allem junge Menschen kiffen und dadurch gewalttätig werden würden.

Die Hippies als Wegbereiter moderner Drogenpolitik

Mitte der 1960er Jahre ersetzte die Hippie-Bewegung den Nachkriegsmief durch Cannabis-Rauchschwaden, Indischer Hanf war plötzlich wieder in aller Munde. Als Reaktion verschärfte die sozialliberale Koalition mit dem neuen Betäubungsmittelgesetzes 1972 die Strafen für Cannabis drastisch. Die Stadt Heidelberg wurde derweil mit Werner Pieper und seinem Grüner Zweig-Verlag zur Keimzelle der deutschen Legalisierungs-Bewegung, galt als die Hasch-Hochburg der Region - und  Sitz des Nato-Hauptquartiers. Damals war es in Highdelberg ein offenes Geheimnis, dass es das gute Gras bei den GIs gab.

2021 sprechen die meisten Parteien im Bundestagswahlkampf über eine Entkriminalisierung von Cannabis. Wie man den historischen Irrtum des Cannabis-Verbots beheben könnte, werden die Mitglieder der nächsten, wahrscheinlich aus einer Koalition bestehenden Regierung dann diskutieren müssen – zum Beispiel beim Besuch der Wagner-Festspiele in Bayreuth.

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