FYI.

This story is over 5 years old.

Words

„Ich höre nur noch Technik in der Musik, aber kaum Seele“—Goldie im Interview

„Ich bin wieder ein OG“—Goldie zu 20 Jahren Metalheadz und die Verwandlung von ‚Timeless’ in Orchestermusik.

Foto: © Chelone Wolf

Wenn mich jemand in England als ‚Type' bezeichnen würde, würde ich denjenigen—je nach Tagesform—entweder schief angucken oder ihm einen Todesblick zuwerfen. Bei einer ‚Type' habe ich zu allererst eine Person vor Augen, die am lautesten rumschreit während sie am wenigsten zu sagen hat. Es gibt aber auch den seltenen Fall, dass eine ‚Type' ein wirklich außergewöhnlicher Mensch ist, der eine unauslöschliche Spur bei allem und jedem hinterlässt, was ihn umgibt. Die britische Drum'n'Bass-Legende Goldie ist genau so eine verdammte ‚Type'. Ob als DJ, Producer, Labelinhaber, Schauspieler, Graffitikünstler—mit jeder neuen Sache, die er in seiner sich über mehrere Dekaden erstreckenden Karriere in Angriff genommen hat, gab er immer mehr sonderbare und wundervolle Dinge über sich preis.

Anzeige

Lauren Martin sprach mit Goldie über seine anstehende Show in Londons Southbank Centre—wo er eine orchestrale Überarbeitung seines inzwischen 20 Jahre alten Albums Timeless präsentiert—, das Erbe des Metalheadz-Labels und darüber, wie er sich manchmal mit Jeff Mills über das Weltall unterhält.

THUMP: Wie läuft die Transformation von Timeless in ein Orchesterstück?
Goldie: Das ursprüngliche Album hatte auch schon riesige Streicherarrangements, die von verschiedenen elektronischen Presets erzeugt wurden. Timeless war also schon zu Beginn ein durchkomponiertes Album. Natürlich gibt es mit dem ganzen Equipment heutzutage einen riesigen Unterschied zu dem, was früher möglich war … Es wird deutlich anders klingen, aber das bedeutet für mich nur, dass ich etwas herumzuexperimentieren kann.

Ich erinnere mich noch, dich 2008 in der Sendung Maestro von BBC Two gesehen zu haben. Dort hast du gelernt, wie man als Dirigent arbeitet. Du scheinst dich ja wirklich für klassische Musik zu interessieren. Hat sich diese Erfahrung auf dein Timeless-Projekt übertragen?
Ich bin fasziniert davon, wie sich geschriebene Noten auf Papier in Musik verwandeln, und davon, wie ein Orchester funktioniert. Ich habe gerade erst ein Stück für die Glasgow Philharmoniker fertiggestellt, das nächsten Monat aufgeführt werden wird. Die Sache mit Timeless und The Heritage Orchestra ist aber etwas anderes, würde ich sagen.

Anzeige

Warum?
Weil sie mehr daran interessiert sind, was alle Beteiligten für sich aus dem Projekt ziehen können—ganz anders als beim London Symphony Orchestra, was im Vergleich dazu etwas steif zu sein scheint. The Heritage Orchestra besteht aus Menschen, die jeweils fünf oder sechs verschiedene Instrumente beherrschen und die immer überlegen, was sie zu einer Komposition beitragen können. Ich bewundere Chris Wheeler wirklich sehr. Er ist ein Genie. Das erste, was er zu mir sagte, war: „Ich möchte, dass das eine Neuinterpretation wird, kein einfaches Nachspielen."

Stream: Goldie - Timeless

Auf welche Tracks in Orchersterform freust du dich besonders? Gab es welche, bei denen die Umsetzung besonders herausfordernd war?
Wir forderten uns selber bei solchen Tracks wie „Angel" heraus, vor allem damit, es mit Blechbläsern umzusetzen. Ich mag solche Herausforderungen wirklich gerne. Wir versuchen neue Sounds zu kreieren, wodurch sich die Songs dann vielleicht komplett anders anhören. Aber mir gefällt einfach die Idee von einem kleinen Chor aus 15-20 Menschen, der „Angel" schmettert.

Wie fühlst du dich dabei, ein 20 Jahre altes Album von dir so zu überarbeiten?
Manche Dinge sollte man lieber in Ruhe lassen, das ist klar. Aber was ich hier tue, ist auf eine Art Musik zu reflektieren, die ich angemessen und spannend finde. Die Leute dachten damals nicht, dass die Musik nach einem Jahr noch jemanden interessieren würde. Und gerade deswegen gefällt mir die Idee, auf so etwas zurückzublicken und darüber nachzudenken, wie das alles funktioniert hat. Ich finde, dass es noch immer sehr experimentell ist. Timeless war für mich eine Blaupause für zukünftige Ideen. Es ging um einen Jungen, der den Traum hatte, etwas rauszubringen, was in seinem Kopf war. Wenn ich diese Blaupause in eine reale, greifbare Situation überführen kann, dann ist das großartig.

Anzeige

Wie waren die Reaktionen zu diesem Projekt? Gab es Snobismus-Vorwürfe?
Die meisten Menschen, die die klassische Musik geschrieben haben, die ich höre—die Bauern, die die Musik im 14. Jahrhundert komponiert haben—würden sich wahrscheinlich im Grab umdrehen, wenn sie herausfinden würden, wie Menschen ihre Musik adaptiert haben. Aber ich lebe noch! Blöder Witz … Ich werde der ganzen Hochnäsigkeit um klassische Musik ein Ende setzen: Dieser Idee, dass die Menschen, die so etwas hören dürfen, eine bestimmte Rangposition in der Hierarchie innehaben müssen. Diese Musik gehört allen. Ich habe gesehen, wie Dudamels Venezuelan Orchestra die Festival Hall zerfickt hat. Klassische Musik ist verdammt großartig.

Timeless und euer Label Metalheadz sind inzwischen beide 20 Jahre alt. Hast du das Gefühl, dass diese Jubiläen und die Southbank-Aufführung Teil deines Weges sind, einer der einflussreichsten Künstler Großbritanniens zu werden? Du wurdest ja bislang immer respektiert, aber das ist schon der nächste große Schritt nach oben.
Die Zeichen stehen gerade gut für mich. Plötzlich bin ich wieder der OG. Ich bin wieder Rakim. Natürlich ist jetzt eine neue Generation da draußen und es gibt viele neue Sachen, aber ich habe es geschafft, durchzuhalten und mich neu zu erfinden. Was Metalheadz angeht, haben wir alle anderen überstanden. Viel elektronische Musik scheint ihre Integrität verloren zu haben—aus eigener Schuld. Sie ist Teil der Popmaschinerie geworden. Meine Ansicht ist da vielleicht nicht korrekt und Leute werden denken, „Naja, das kann er jetzt so nicht sagen", aber ich kann sagen, was auch immer ich will. Das heißt nicht, dass jeder die Musik von Metalheadz versteht, aber sie ist in sich ehrlich. Ehrlichkeit verkauft sich allerdings nicht immer.

Anzeige

Was gefällt dir denn an aktueller elektronischer Musik nicht?
Ich finde, ihr fehlt die Seele. Meine Tochter hörte sich letztens „Angie" von den Rolling Stones an und sie war ja noch nicht mal gezeugt, als das Lied geschrieben wurde. Ich fragte sie also, warum sie den Song mag, warum sie Bands wie die Happy Mondays mag, und sie sagte einfach nur: „Ich finde, dass es etwas bedeutet, Dad." Warum klingt Musik aus den 70ern so gefühlvoll? Damals gab es nicht halb so viel technisches Equipment wie heute, also basierte die ganze Musik auf gutem Songwriting. Heutzutage höre ich in der Musik vor allem die Technik und kaum noch die Seele.

Verstehe mich jetzt nicht falsch, da spielen viele Sachen mit rein. Als wir aufwuchsen waren wir als Raver schon etwas älter. Heutzutage gehen die Menschen schon im jungen Alter aus und das spiegelt sich auch in der Musik selber wieder. Die Älteren schreiben sie nicht mehr für die Gleichaltrigen. Sie machen die Musik für die jungen Leute auf dem Dancefloor. Ich glaube, das ist auch der Unterschied, warum Graffiti in den 80ern so wichtig war, im Gegensatz zu heute. Niemand versteht es, niemand kann es lesen, aber kaum druckst du Bubblebuchstaben auf ein T-Shirt, rennen alle los und kaufen es. Das gleiche ist auch Drum'n'Bass widerfahren. Es ist mit jeder Subkultur passiert, aber Drum'n'Bass hat von allen am meisten darunter gelitten.

Hörst du viel Footwork? Es ist ja extrem von Drum'n'Bass und Jungle beeinflusst.
Es ist ganz cool, aber hat auch etwas von einem Blick durch ein Kaleidoskop. Jungle dagegen hatte sein eigenes, ganz besonderes Element. Für mich stellt OM Unit ein großartiges Beispiel für diesen Wechsel dar. Er hatte seine größte Veröffentlichung über Metalheadz und er ist mit Metalheadz großgeworden—es war sein größter Einfluss, und auch Footwork wurde von alledem inspiriert. Wofür steht Metalheadz? Die Menschen können sich unsere DNA-Stränge nehmen und daraus etwas vollständig Neues erschaffen.

Anzeige

Als ich in den 80ern in New York mit den ganzen Graffitiheads unterwegs war, fußte die eigentliche Vorstellung von Metalheadz auf meiner Erfahrung, wie ich die Arbeiter der Bronx mit eigenen Augen gesehen habe. Wo sich einst die Zentren der Arbeitercommunitys befanden, waren die Gebäude eingestürzt. Für mich ging es bei Metalheadz vor allem darum, das Zelluloid dieser Erfahrung zu repräsentieren.

Welche Drum'n'Bass Künstler gefallen dir denn gerade?
Ich beobachte Leute wie Sb81, der gerade wirklich alles abräumt. Der hat mir buchstäblich die Gehörgänge durchgepustet. Künstler wie OM Unit, DLR und Mako in Bristol gehören auch dazu—die machen wirklich abgefahrene Sachen. Ich glaube, dass sich das Genre so sehr neuerfunden hat, dass wir jetzt langsam wieder am Anfang angekommen sind.

Ist ein großer Teil des anhaltenden Interesses an Metalheadz vor allem du selbst?
Vielleicht hat das etwas damit zu tun. Wenn ich etwas Neues höre, rufe ich die Leute gerne sofort an. Mir gefällt es, in einer Position zu sein, aus der ich das machen kann. Ich glaube, die Tatsache, dass mich die Leute in New York unter ihre Fittiche genommen haben als ich ein Teenager war, hat auf mich abgefärbt. Du brauchst eine gefestigte Haltung, wenn du anderen Menschen gegenübertrittst. Wenn ich mit einem A&R-Typen an einem Tisch sitze und er mir sagt, dass ich mein Schema ändern soll, weiß ich, dass das, was ich mache, mit seiner Welt rein gar nichts zu tun hat. Es geht alles um die Attitüde der Musik. Wenn du das machst, um Millionär zu werden, ist das der falsche Job für dich.

Anzeige

Ich habe das Gefühl, dass Plattenfirmen, vor allem die kleineren, wichtiger denn je für die Musik sind. Das Internet und preiswerte Software erlauben es jedem, der Lust drauf hat, sich als Musikproduzent zu versuchen. Ich glaube, wir brauchen die Labels, um Sounds, Bewegungen und Ästhetiken festzuhalten, damit etwas Handfestes bleibt, an das man sich erinnern kann. Was hältst du davon? Glaubst du, dass unabhängige Label gerade deswegen dem Sturm so gut trotzen können und mit kompromissloser Ästhetik und eigenständigem Sound solche Meilensteine wie ein 20-jähriges Bestehen feiern können und überall dafür respektiert werden?
Hör mal zu, Liebes'—darf ich dich Liebes nennen? Ich möchte hier nur mal für eine Minute Klartext sprechen: Menschen, die ausschließlich Zeug bei SoundCloud hochladen, greifen verzweifelt nach Strohhalmen. Die scheinen es wirklich zu brauchen. Die sind so wie die Kids, die aufgeregt mit ihren Handys winken: „Retweete mich! Tweete mich!" Junge, haben die keinen Stolz? Manche Menschen haben das unstillbare Bedürfnis, berühmt zu werden. Gute Musik ist einfach gute Musik. Viele Sachen, die ich heutzutage höre, haben einfach nichts Interessantes an sich und ich glaube, dass Labels sehr wichtig sind.

Was wird der nächste Schritt von Metalheadz sein? Wirst du weiterhin das Steuer in der Hand halten?
Du hast Recht in dem Punkt, dass ich das Label weiter anführen werde. Aber ich finde auch, dass die Haltung von Metalheadz inzwischen auf verschiedene Leute übergegangen ist. Ich glaube auch, dass bei uns noch eine andere Generation arbeitet. Die Musikindustrie steht momentan auf dem Kopf. Die Leute wollen alle Popstars werden, meinetwegen sollen sie das auch. Wenn mir aber jemand sagen würden, dass Metalheadz die neue Nummer Eins wird, würde ich mich wahrscheinlich erschießen. Wir sind das Gegenteil von alledem, was gerade abgeht. Ich glaube, dass eine jüngere Generation davon in Zukunft inspiriert werden wird—auf eine wirklich bahnbrechende Art.

Anzeige

Was sagst du zu diesen gigantischen Dance-Festivals in den USA? Du hast schon in Miami und New York gewohnt und wirst sicher einige große Veränderungen in der Kultur mitbekommen haben—sowohl aus nächster Nähe als auch aus der Ferne?
Ich spiele nicht mehr auf diesen großen EDM-Festivals, weil es einfach kein Ort für uns ist. Das ist das Ding einer anderen Generation. Wenn wir auf einem dieser Festivals ein Metalheadz-Set spielen würden, wäre es öde. Ich muss aber sagen, dass eine gute Sache an aktueller elektronischer Musik ist, dass sie sich verschiedensten anderen Musikarten gegenüber geöffnet hat. Es geht nicht mehr ausschließlich um Drum'n'Bass und das gefällt mir. Als wir noch jünger waren, war das noch nicht möglich. Du musstest deine Schublade finden und dann dort bleiben. Damals gab es nur Drum'n'Bass oder Pop.

Ich hätte dich jetzt gefragt, was als nächstes kommt, aber du hast ja schon ein wirklich anstrengendes Jahr hinter dir.
Aber so was von! Wir sind gerade erst mit Kingston 14 durch. Ich bin total ausgebrannt. Ich habe in 35 Vorführungen gespielt. Das letzte Wochenende hat mir einfach den Rest gegeben. Ich habe gerade erst eine SMS von [der Schauspielerin] Olivia Williams bekommen, sie ist eine gute Freundin von mir—wir beide machen viel Yoga, um unsere Leben zu überleben—und sie schrieb einfach nur „Es ist vorbei! Gottseidank!" Freitag hatte ich eine Aufführung, dann im Fabric gespielt, dann fuhr ich nach Nottingham und habe dort ein Set von 4:30 bis 5:30 Uhr gespielt und kam morgens um 7:45 Uhr zurück nach London. Dann bin ich aufgestanden und für eine Matineevorstellung zum Theater gefahren und habe dann noch am Abend eine Show gespielt. Ich habe keine Ahnung, wie ich das überlebt habe. Eine Reise zum Mond fände ich super.

Anzeige

Video: Goldie stars as gang leader in Kingston 14

Ich habe gerade erst mit Jeff Mills über das Weltall gesprochen. Das scheint ein Traum von euch beiden zu sein.
Liebes, ich kenne Jeff!

Echt jetzt?
Ja, wir unterhalten uns manchmal—letztens über die Himmelsbilder, die er gemacht hat. Er spielt auch gerne mit orchestralen Arrangements.

Ihr habt jetzt beide Stücke für Orchester geschrieben. Habt ihr euch darüber unterhalten?
Wir hatten wirklich lange Unterhaltungen über seine Arbeit. Ich hab' versucht, ein bisschen über die Dinge, die er macht, aus ihm herauszukitzeln. Für ihn nehme ich mir immer viel Zeit. Er ist ein wirklich schlauer Typ und er respektiert mich auch und das, was ich mache. Wir sind natürlich sehr verschieden, aber eigentlich kommen wir aus der gleichen Ecke. Manche seiner Ideen sind extrem abstrakt. Mir gefällt, wie er denkt.

Folgt Lauren auf Twitter: @codeindrums

**

Folgt THUMP auf Facebook und Twitter.

MEHR VON THUMP

Was wurde eigentlich aus Acid House?

Eine ganze Generation fühlte sich in den 80ern von einer wahrhaften Gegenkultur angezogen.

„Ich mache keine Musik für Gleichgesinnte"—Fatima Al Quadiri im Interview

Ihr neues Hyperdub-Album ‚Asiatisch' klingt einzigartig, im Interview spricht die Konzeptkünstlerin über Sino-Grime und des Westens China-Kopien.

Die zehn besten Dance-Musik-Zitate aller Zeiten

Fantastische Weisheiten von Frankie Knuckles, Jeff Mills, Björk, Deadmau5 und anderen.