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Tobelbad ist der Ort, wo du hinkommst, wenn du aus neun Metern aufs Pflaster fällst

Tobelbad ist der Ort, von dem Menschen träumen, deren Leben sich über Nacht plötzlich mit der Diagnose „inkompletter Querschnitt“ auf höchst uncoole Weise verändert hat.

Röntgen-Bild von Horsts reparierter Ferse. Foto von Horst Sunitsch

Diejenigen unter euch, die keine Kinder von Traurigkeit sind und zusätzlich so etwas wie unerkanntes ADHS oder Borderline haben, oder einfach nur ungeschickt sind, könnten früher oder später in der Reha Klinik Tobelbad bei Graz landen. Zumindest sofern deine besondere Begabung zu einem schwerwiegenden Unfall führt und sich deine Ungeschicktheit äußert, indem du hin und wieder aus dem Fenster oder vom Balkon fällst.

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Wenn du wie ich mit dem Befund „Konus-Kauda-Syndrom mit schlaffer Lähmung der Blase“ konfrontiert wirst, brauchst du jedenfalls ein Wunder—oder eben ein Tobelbad. Als mir meine Versicherung nach einigem Warten endlich die Reha genehmigte, war ich einigermaßen erleichtert. In diese schwierige Lage gebracht hatte mich ein Sturz aus dem Küchenfenster meiner im zweiten Stock liegenden Altbauwohnung.

Im Unfallkrankenhaus hatte ich Schläuche in jeder Körperöffnung, außer in meinem Arsch. Ich wurde beatmet und war intubiert. Da ich nicht sprechen konnte, gaben sie mir eine Tafel, um meine Wünsche zu notieren. Das einzige was ich immer wieder geschrieben habe, war „Schlauch raus“ und hin und wieder ein „Fuck you“.
Der Intubationsschlauch hat mich damals furchtbar genervt. Meine Mum hat mir daraufhin über die Stirn gestreichelt und lächelnd gesagt: “Das geht jetzt leider nicht, Horsti“. Als mir die Ärzte von Tobelbad erzählen, wusste ich sofort, dass ich dorthin musste.

Ungefähr die Hälfte meiner damaligen Wünsche und Träume sind nach erfolgter Tobelbad-Reha in Erfüllung gegangen: Ich kann heute wieder gehen—wenn auch mit einem mehr als markanten Gangbild—und ich muss nicht mehr mit meinem Rolli über Gehsteigkanten hüpfen oder mich beim Kathetern meiner Harnröhre vom Rollstuhl hoch stemmen, um auf den Klositz zu gelangen.

Unfall-Ambulanz-Selfie. Foto von Horst Sunitsch

Wenn man im Rollstuhl landet, lernt man zuerst mal, Unwichtiges auszublenden. Was man aber leider nicht lernt, ist, wie man sich als Akademiker von einem Tag auf den anderen die nötige Bauernschläue zulegt, um das Pissen mit Katheter zu meistern. Die meisten Querschnittler, die ihre Hände noch einigermaßen bewegen können, werden auf das sogenannte Kathethern eingeschult, das heißt, man entleert seine Harnblase fünf bis sechsmal am Tag mit einem Einmalkatheter.

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Das allein bringt jedoch nichts, wenn einem das grundlegende Wissen fehlt, wie zur Hölle man von seinem sportlichen Rolli auf das höhergelegene WC gelangen soll. Deswegen war ich sehr dankbar, als mir meine mitfühlende Reha-Kollegin Katharina eine praktische Möglichkeit eröffnete, als ich mich bei ihr beschwerte.

Kathi sagte damals sinngemäß so was wie: „Alter, du hast nur einen inkompletten Querschnitt— genau wie ich. Du kannst dich einfach mit beiden Händen vom Rolli aufs Klo stemmen. Wenn ich das als Mädchen zusammenbringe, wirst du das auch irgendwie schaffen. Problem gelöst.“ Von da an musste ich nicht mehr jedes Mal nach dem Pfleger läuten, wenn Kacken oder Kathetern angesagt war. Das Personal in Tobelbad besteht zwar aus einigermaßen gemütlichen Frau- und Herrschaften, doch wie die meisten Hackler aus dem Pflegebereich sind auch sie heillos überfordert.

Wenn man klingelt, muss man warten können. Alles, was man an eigener Selbständigkeit herausholt, kommt einem da nur selbst zugute. Meine damals beste Freundin Katharina hat mich nicht nur mit praktischen Ratschlägen, sondern unter anderem auch mit Zahnbürsten, Rasierklingen und Mädchensocken versorgt, wenn bei mir wieder einmal der Utensilien-Notstand ausgebrochen ist. Das ist zwar kein direkter Verdienst des Tobelbads, aber ohne meinen Aufenthalt hätte ich sie nie kennengelernt.

Dann gab es da noch die Katheter-Herrin, die mir in der Tat keinen geblasen und mich auch nicht gezüchtigt hat, obwohl das zu ihrem inoffiziellen Titel (und wahrscheinlich auch eurer versauten Fantasie) passen würde.Tatsächlich hatte ich zwar jeden Tag um acht Uhr abends ein Date mit dieser feschen und reschen Stationsschwester—aber stattdessen sah sie mir nur dabei zu, wie ich meine Harnröhre mit in Schleimhautdesinfektionsmittel getränkten Tupfern polierte und danach mit Einmalkathedern der Marke Lofric penetrierte.

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Lest auf Seite zwei mehr über „Katheterknilch Horst“, eine jungen Grazerin mit Motorradunfall und seinen persönlichen Apocalypse Now-Moment.

Selfie am WC, kurz vor dem Kathetern. Foto von Horst Sunitsch

Nach anfänglichen Schwierigkeiten lernte ich den Katheter rasch mit Gefühl in meine Harnblase einzuführen und beim Ausfließen des Urins in den Harnbecher ein entspannendes Gefühl und ein begleitendes „Ahh“ zu entwickeln, das ich mir meiner Meinung nach auch einigermaßen verdient hatte.

Mir wurde gesagt, dass die meisten Patienten das Kathetern in zwei bis drei Tagen können, sogar oder insbesondere Kinder. Mir war es trotzdem nicht peinlich, dass ich das besagte Körper-Kunstwerk erst nach drei Wochen perfekt beherrschte.

Entweder lag es einfach an der Sympathie zwischen der Katheter-Herrin und mir oder aber daran, dass ich mich durch ihre Anwesenheit nicht unter Druck setzen ließ. Jedenfalls fand ich das Kathetern mit meiner schönen Schwester um einiges lustiger, als die erste Katheter-Einschulung. Da wurde ich unter der Aufsicht von drei Pflegern, die mir abwechselnd und gleichzeitig gute Ratschläge gaben, mit der scheinbar unlösbaren Aufgabe konfrontiert, mit einer Hand meinen Schwanz zu halten und diesen nicht mehr loszulassen, während ich mit der anderen Pfote meine Eichel mit getränkten Tupfern polierte um danach mit zärtlicher Sorgfältigkeit einen Plastikschlauch in eine Öffnung einzuführen, die mich zunehmend an das ominöse Nadelöhr erinnerte. (Das ist die etwas ausführlichere Erklärung dazu, wie Kathetern funktioniert und wenn ihr das nicht hören wolltet, tut es mir sehr leid für euch—aber wisst ihr, ich wollte es auch nicht unbedingt machen müssen.)

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Die Bohrdrähte aus Horsts Fuß. Foto von Horst Sunitsch

Was soll ich sagen, jeder hat seine Präferenzen. Mir persönlich fällt es schwer, mich auf mehrere Personen gleichzeitig zu konzentrieren, die einem erklären, mit welcher Hand ich meinen Schwanz, mit welcher den Katheder und mit welcher die Tupfer halten soll. Eigentlich braucht man dafür drei Hände oder noch besser so viele, wie die indische Gottheit Ganesha. Ich fand dann das Kathetern unter 4 Augen—oder 5 Augen, wenn man die als Auge bezeichnete Spitze des Katheders dazuzählt—mit meiner Katheter-Lehrerin irgendwie chilliger. Auch wenn zahlreiche Mitpatienten der Meinung waren, die Schwester wäre irgendwie streng, traf ich mich einigermaßen gerne mit ihr, weil ich immer noch glaube, dass die anderen nur wegen ihrer Brillen und ihres streng gebundenen Schwesternzopfes zu dieser unbegründeten Einschätzung kamen.

Als sie mir nach drei Wochen täglichen Trainings schließlich eröffnete, es wäre langsam Zeit das Ganze eigenständig zu vollbringen, habe ich es recht schnell geschafft, zum Shaolin-Meister des aseptischen intermittierenden Katheterismus zu werden, was Geschwindigkeit und Style angeht. Aufreizende Sexgeschichten haben zwischen uns leider nicht stattgefunden. Ich fürchte, ich bin hier das Arschloch, das euch zuerst Sauereien in Aussicht stellt und dann doch nur einen literarischen Coitus interruptus verschafft —obwohl die Geschichte durchaus etwas unterschwellig Sexuelles hatte. Ich dachte dabei oft an einen Nischen-Porno mit dem Titel „Die Meisterin des fünften Auges und ihr Katheterknilch Horst“. Mehr ist aber nicht passiert, außer in meiner Fantasie, die ich trotz meiner durch den Unfall gewaltig reduzierten Potenz zugegebenermaßen noch immer habe. Tobelbad ist natürlich voll von Männern, die sich selbst beweisen müssen, dass sie in sexueller Hinsicht noch immer das Gleiche können, wie vor dem Unfall.

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Die nächste Episode auf meinem Weg der Besserung hatte mit einem jungen Mädchen zu tun, das wegen einem Motoradunfall in Tobelbad war und der ich aus lauter Mitleid mit ihrer obdachlosen Situation und ohne jeden Hintergedanken gleich meine leerstehende Grazer Unfallwohnung angeboten habe (stimmt nicht, ich wollte sie natürlich flachlegen, aber das würde ich niemals außerhalb dieser Klammern zugeben). Das Ganze hielt aber nicht lange, nachdem sie draufgekommen war, dass ich mir aus umgeleiteter Geilheit meine Zähne ein Mal (oder öfters) mit ihrer Zahnbürste geputzt habe.

Horsts Fuß nach der Fersenzertrümmerung. Foto von Horst Sunitsch

Danach

Nach der Reha fühlte ich mich ein wenig wie Captain Willard (gespielt von Martin Sheen) in der Anfangsszene von Apocalypse Now: „Als ich in Tobelbad war wollte ich nur nach Hause. Jetzt bin ich zu Hause, aber würde am liebsten wieder zurück in die Klinik.“

Dort hatte man für mich gesorgt. Jetzt war ich wieder auf mich allein gestellt. Das war am Anfang ziemlich schwierig für mich. Ich war zwar nicht mehr im Rolli, aber wenn man so etwas Verstörendes wie einen fast tödlichen Unfall mit anschließender halbjährlicher Reha hinter sich hat, fühlt man sich wirklich wie ein Kriegsveteran. Inzwischen habe ich mich wieder eingewöhnt und komme zu Hause gut zurecht. Als ich in Tobelbad im Rolli mobilisiert wurde und mit anderen Querschnittlern zusammen war, die ähnliche Sorgen und Wünsche haben, fasste ich neuen Mut. Ich habe wieder gehen gelernt. Das habe ich einerseits den engagierten Therapeuten zu verdanken—anderseits war es auch Glückssache.

Ich bin seither nicht mehr in Tobelbad gewesen, obwohl mir eine Wiederholungs-Reha seitens der Klinikleitung angeboten wurde. Für Rollifahrer und Amputierte ist das—zumindest für eine gewisse Zeit—sicher der beste Ort der Welt.