Jesse Osborne-Lanthier hat sich ins Bett gelegt, damit dir die Sicherungen durchbrennen

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Jesse Osborne-Lanthier hat sich ins Bett gelegt, damit dir die Sicherungen durchbrennen

Der Kanadier betreibt Rave als Zerstörung und hat mit uns über seine großartige neue EP auf raster-noton gesprochen.

Schutt und Zerstörung ziehen ihn an: Jesse Osborne-Lanthier. Promofotos (beide) von Madison Dinelle

Faustregel: Nach dem Rave ist vor dem Rave – und dazwischen wird geschlafen. Keine Hormonexplosion ohne Schlaf, Ruhe und Aufladung. Kein Tanzen mit müden Beinen. Das Bett ist der Ort, wo jeder Rave beginnt und endet. Das weiß auch Jesse Osborne-Lanthier.

Es ist Mittwochmorgen, 11:30, Montreal, Kanada, als sich Jesse vor seinen Computer setzt. "Good morning! Draußen ist es richtig ekelhaft. Wie geht's euch in Berlin?"

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Ein bisschen verfeiert ist er. Sein musikalischer Partner, Bernardino Femminielli, mit dem er das Projekt Femminielli Noir betreibt, war zum Essen da. Es gab Drinks, man feierte Femminiellis heutigen Touraufbruch geht.

Dass wir skypen müssen, um über Jesses neue EP Unalloyed, Unlicensed, All Night! auf dem Chemnitzer Label raster-noton reden zu können, hat einen traurigen Grund. Eigentlich hangelte sich der Kanadier nämlich ich in den letzten Jahren von Zwischenmiete zu Zwischenmiete durch Berlin (und scheiterte dabei auf der Suche nach einer langfristigen Unterkunft auch an der Xenophobie eines Vermieters).

Im September starb allerdings plötzlich seine Mutter plötzlich, Jesse zog zurück nach Montreal, um sich um seine Familie zu kümmern.

Unalloyed, Unlicensed, All Night! ist jedoch einige Monate zuvor, im Sommer 2016 in Paris entstanden; innerhalb von lediglich zwei Stunden und in einem Bett. Diese Umstände amüsieren den Musiker bis heute. "Ich war fiebrig und lag bei einem Freund rum, kurz vor einer Show. Die Leute in Frankreich sind komisch: Obwohl sie zu experimentellen Konzerten gehen, wollen sie selbst da noch tanzen. Wenn du nichts Tanzbares spielst, schreien sie dich sogar an." Jesse wollte darauf vorbereitet sein. Also fing er an, neue Tunes zu produzieren.

"Es wurde eine Art Essay über Dance Music." Alles wurde ohne Multispur, ohne Mikro und ohne Nachbearbeitung, dafür aber teilweise mithilfe von Presets aus einer gecrackten Demosoftware mehr oder weniger direkt aufgenommen. Den Titel des Openers "Blackwell Dynonetics" ließ sich Jesse dann noch schnell von einem Businessnamengenerator aus dem Internet erfinden."Das sind sprichwörtliche Jams, die so sind, wie sie eben sind. Normalerweise bin ich richtig beschissen im Schnellsein", gibt er zu. Nur bei der zweiten Nummer, "The Zika Slam", wurde noch etwas im Studio nachgeholfen.

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Der Track brummt, schwirrt, röhrt, dröhnt, zirpt übrigens wie ein Cyborg-Moskitoschwarm, der den hübschen Kopf wundsticht. Aua. Und auch ansonsten ist Unalloyed, Unlicensed, All Night! weniger eine klassische Rave-Platte, als vielmehr die Zerstörung einer solchen. Nicht so düster und klar definiert als du es vielleicht sonst von raster-noton gewöhnt bist; vielmehr bauchiger, wuchtiger, dringlicher. Spätestens, wenn sich das abschließende "Lick And A Promise" an gebrochenen Trance-Reminiszenzen immer schneller und schneller hochschraubt, brennen dir beim Hören mit ziemlicher Sicherheit die Sicherungen durch.

"Gewissermaßen ist es das Trashigste, was ich jemals gemacht", meint Jesse, "aber es kann sein, dass ich das jetzt öfter so handhaben werde." Dabei ist er eigentlich eher einer dieser Produzenten, die stets unzufrieden auf die meisten Platten zurückblicken, die sie bislang veröffentlicht haben. Da gibt es immerhin einige: Auf Labels wie Where To Now?, Hobo Cult oder Cosmo Rhythmatic hat er in den letzten Jahren Album um Album rausgehauen, einige davon auch mit seinen Kollaborationsprojekten wie eben Femminielli Noir oder Mor† und The H sowie mit Grischa Lichtenberger.

Ich bin ein Teenager, der wieder lernt, Musik zu machen.

Der Berliner Lichtenberger und Jesse sind sehr gute Freunde. Ihre Zusammenarbeiten, die sie bald wieder aufnehmen wollen, entstehen vor allem aus langen Diskussionen. Jesse: "Mit Grischa ist es sehr seltsam. Er setzt sich nicht mit dir hin und 'kollaboriert' mit dir. Ohne zwei Stunden mit ihm über etwas zu reden, das er dann auch noch vor dir komplett begreift, passiert da nichts." Der Kanadier glaubt, dass ihr gutes Auskommen daran liegt, dass sie sich zunächst online kennenlernten und schon dort ihre ausführlichen Kommunikationen etablierten. "Grischa ist ein großartiger Mensch und Freund."

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Olaf Bender, der raster-noton in Zusammenarbeit mit Carsten Nicolai betreibt, war kurioserweise allerdings nicht durch Jesses Arbeiten mit Lichtenberger oder mit Robert Lippok auf ihn gestoßen (beide gehören immerhin zum Roster des Labels), sondern viel, viel später durch einen Mix des CTM Festivals, in dem ein Demo von Jesse enthalten war. Bis heute fragt er sich deshalb: "Arbeite ich so sehr unter Radar, dass sie mich all die Jahre nicht bemerkt haben?"

Ursprünglich sollte auch eine andere Jesse Osborne-Lanthier Platte bei raster-noton erscheinen: ein Album, das aus Remixen von EDM-Tutorials auf YouTube bestehen sollte. Diese Videos haben es Jesse sichtlich angetan. Allerdings nicht, weil sie so gut und hilfreich sind, im Gegenteil: "Die meisten Leute, die diese Musiktutorials aufnehmen, wissen selbst nicht, wie man Musik macht. Das sieht oft eher so aus, als ob sie selbst gerade einem anderen Tutorial folgen."

Jesse legte mir noch dieses (ironische) EDM-Tutorial ans Herz …

Und würde man diese eins zu eins nachproduzieren, da ist er sich sicher, käme dabei auch kein Big Room House heraus, sondern eher ziemlich experimentelles Zeug. "Das alles hat an sich keine Seele und dadurch wird es dann verkannte Deconstructed Club Music." Was ja wiederum auch ziemlich interessant wäre. Am Ende setzte Jesse das Projekt aber wegen potentieller Lizenzierungsproblem nicht um. Stattdessen flossen diese Experimente in Teilen in eine Veröffentlichung bei Where To Now? ein, raster-noton brachte stattdessen die Pariser-Bett-EP heraus.

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Diese Entwicklung steht sinnbildlich für den Verlauf seiner Karriere: In seinem unersättlichen Drang, Clubmusik zu dekonstruieren, offenzulegen und auf links zu stülpen, ist Jesse Osborne-Lanthier immer simpler und direkter geworden:

"Ich bin ein Highschool Dropout, das System hat sich für mich immer erdrückend angefühlt. Akademische Ansätze stoßen mich ab. Oder sagen wir es so: Ich mag Stockhausen nicht, aber ich mag, wie er klingt. Eine Zeit lang benutzte ich nur Geräte und Methoden, die von sich aus als intellektuell bzw. wissenschaftlich gelten, aber akademisch wollte ich dabei nie sein. Ich suche immer nach dem Kind in mir, der Antiautorität und der Verschwendung."

"desktop.jpg" nennt sich dieses Bild, das mir Jesse ebenfalls mailte

Jetzt arbeitet er an Touren in Europa und Japan. 2017 soll sein Tourjahr werden, vielleicht zieht es ihn danach auch wieder zurück nach Berlin. Und dann ist da noch ein neues Musikprojekt, an dem er bereits sitzt: "Gerade überlaste ich die CPU von zwei Computern miteinander, so dass sie ineinander Klang erzeugen. Dabei entsteht eine sehr seltsame Musik, die nicht versucht, kaputt zu sein, sondern tatsächlich kaputt ist. Sie klingt total zerstört."

Jesses aktuelles Set-up besteht aus einem alten Oszillator aus Kriegszeiten, einem Sony VAIO Notebook von 2007 und einer "sehr, sehr alten" "Fruity Loops"-Version. Er sagt über sich:

"Ich bin ein Teenager, der wieder lernt, Musik zu machen." Und der gehört ins Bett. Manchmal.

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