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Lost in Techno—Ein Tag mit Xosar in der Red Bull Music Academy Tokio

Die in Berlin lebende Produzentin Xosar macht—um es in Kerri Chandlers Worten auszudrücken—„some sick shit“.

Den 6. September 2014 wird Sheela Rahman aka Xosar niemals vergessen. Es ist der Tag, an dem die Amerikanerin das erste Mal im Berghain spielt. An sich ist das bereits eine große Sache, schließlich ist es so etwas wie der Ritterschlag in der Karriere eines jeden elektronischen Produzenten oder DJ. Für Xosar, die ihre Musik mal als dämonischen House, mal als weirden Techno betitelt, ist es noch aus einem anderen Grund wesensverändernd. An diesem Tag hört sie ihre Musik das erste Mal wirklich, in vollem Umfang, in ihrer ganzen Intensität, auf der unglaublich gut ausgerichteten Funktion One-Anlage des Berliner Clubs. Als Produzentin, die ihre Musik in ihrem Homestudio aufnimmt, findet sie das beeindruckend, aber gleichzeitig entdeckt Xosar auf die Art viele Kleinigkeiten in ihrer Musik, die sie gerne auf der Stelle ändern würde.

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Ob sie den Tag, an dem sie an der Red Bull Music Academy angenommen wurde, auch nie vergessen wird, sagt Sheela nicht. Aber sie erzählt mindestens mit der gleichen Begeisterung und ähnlich großen Augen darüber, wie glücklich sie ist, in Tokio dabei sein zu dürfen. Xosar ist eine von 60 Musikern, die sich dieses Jahr unter den über 6000 Bewerbern durchsetzen konnte. Sie hat sich schon zum zweiten Mal beworben, beim ersten Mal hatte es nicht geklappt. Doch wer seine Ziele und Träume verwirklichen will, probiert es immer wieder und dann ist es auch egal, was andere sagen, findet sie. Tatsächlich hat die L.I.E.S.-Künstlerin Leute in ihrem Umfeld, die sich über ihre Teilnahme lustig machen, da die Academy so ,corporate' ist. „Die haben aber offensichtlich kein Plan." Offensichtlich nicht.

Der Tag, an dem ich Xosar kennenlerne, ist ein sonniger Donnerstag in besagter Academy in Tokio. Von der Sonne bekommt man hier allerdings nicht viel mit, schließlich verbringt man den ganzen Tag in den Studios oder in der Lecture Hall, in der heute Tokimonsta und der Japaner Hip Tanaka, der Musik für SuperMario, Tetris und Pokémon komponierte, Weisheiten verbreiten. Zwischen den Vorträgen, die uns an unsere Tetris-Kindheit zurückerinnern, sitzen die meisten in den Bedroom Studios, in denen Tag und Nacht an Musik gearbeitet, kollaboriert und rumprobiert wird. Xosar hat die letzten Nacht mit zwei Sängerinnen an einem Track gearbeitet, als Produzentin. Obwohl sie eigentlich auch selbst singt. Aber sie würde sich nie trauen vor anderen zu singen, sagt sie, besonders nicht vor solch talentierten Sängerinnen. Also hält sie an ihrer Technik fest, am Studioequipment.

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Wortwörtlich. Xosar ist die Art von Produzentin, die man als Hardware-Geek bezeichnet. Sie ist sehr auf Details bedacht und ihre Geräte sind ihr Heiligtum, besonders der KORG Electribe SX, ohne den sie das Haus nicht verlässt. Während eines Lost in Translation-artigen Interviews, das sie am Nachmittag mit einem japanischen Modemagazin führt-das sage und schreibe fünf Leute für dieses Vorhaben einsetzt-hält sie sich durchweg an dem Synthesizer fest, posiert auch für die Fotos mit ihm. Obwohl die Red Bull Music Academy mit allem möglichen Equipment ausgestattet ist, wollte sie nicht auf ihren Electribe verzichten, mit ihm kann sie schließlich komplette Livesets erstellen. Wer schon mal einen Blick auf Xosars Live-Set Up geworfen hat, erkennt ihre Obsession sofort. Eine Beobachtung, die auch Studio Team-Mitglied Dorian Concept anerkennend zur Sprache bringt, als er gegen Abend in das Studio schneit, um ein paar Lernwünsche der Teilnehmer entgegenzunehmen und mit dem Trackprozess zu helfen.

Obwohl Xosar schon bei manch namhaften Labels veröffentlicht hat-L.I.E.S., Rush Hour, Crème Organization-auf der ganzen Welt gebucht wird, und zwischen den Teilnehmern wohl am ehesten ein alter Hase ist, bleibt sie bescheiden und zurückhaltend. Wenigstens als Person. In ihrer Musik geht sie dagegen nach vorne, ihre technoiden Melodien und Sounds sind harsch, fordernd und industrial. Sie bezeichnet diesen Stil als ,maskulin'. Vielleicht kommt das so aus ihr heraus, um ihre Weiblichkeit auszubalancieren, sagt sie. Früh liebte sie Detroit Techno, die harten mechanischen Beats neben den zarten Melodien. Noch früher entwickelte sie eine Faszination für Düsteres, Horrorbücher und Friedhöfe. Beides hört man in ihrer Musik deutlich heraus.

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Am Abend hält einer von Xosars musikalischen Helden, Kerri Chandler, eine Studio Science-Session, in der er erklärt, welche Boxen und welche Architektur ein ideales Aufnahmestudio haben sollten, und welche Funktionen welche Kabel haben. Aber das Wichtigste, das er allen mit auf den Weg zu geben will, ist: If you put shit in, then shit comes out. Eine Weisheit, die einen sogleich an die gesammelte Spitze in den Charts und auf den Majors denken lässt. Als Xosar etwas zu spät im Hauptstudio ankommt, freut sich Kerri Chandler sichtlich und erzählt allen Anwesenden, dass sie „some sick shit" drauf hätte. Vielleicht ist es doch ein Tag, den sie nie vergessen wird. Wann passiert es schon mal, dass dein Idol dich vor versammelter Mannschaft in den Himmel lobt.

Nächstes Jahr hat sich die Kalifonierin, die dieses Jahr nach der Trennung von ihrem Freund Legowelt aus DenHaag in die deutsche Hauptstadt gezogen ist, ein paar Monate freigenommen, um an einem Debüt zu arbeiten. Zwar hat sie direkt nach der Rückkehr aus der Academy voller neuer Inspiration und Tatendrang ein kostenloses „Album" veröffentlicht, aber so recht möchte sie das nicht als ihr Debüt betiteln. Viel mehr will sie an einem Konzept arbeiten; ein Werk herausbringen, das sie und ihren Sound definiert, eben ein anständiges Album, statt einer Sammlung von Tracks. In welche Richtung das genau gehen wird, kann sie selbst noch nicht sagen. Ihre musikalische Neugierde reicht in viele Richtungen, sie hat neben ihrer bekannten Musik auch ein paar unveröffentlichte, Black Metal-infizierte Tracks und arbeitet zudem gerade mit ihrem Label-Kollegen Torn Hawk an einem neuen Projekt, das Body Tools heißen soll. Psychick Justice ist dagegen eine musikalische Reflektion ihrer letzten Monate, auch das musste eben raus.

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Es ist kein Zufall, dass Psychick Justice kurz nach ihrer Rückkehr aus Tokio erschienen ist. Es ist auch kein Zufall, dass das Überraschungswerk zu Halloween seinen Weg ins Internet gefunden hat-man muss es sich nur einmal anhören. Während der ganzen Academy-Zeit mit so vielen gleichgesinnten Leuten zu arbeiten und zu sprechen, war unfassbar inspirierend, sagt Xosar, wieder zurück in Berlin. Sie zögert bei dem Wort „inspirierend". Sie weiß nicht, wie sie all das sonst beschreiben soll, ständig versucht sie ihre Zeit dort in Worte zu fassen und landet immer wieder bei diesem einen Wort. „Ich glaube, ich habe das Wort inzwischen schon abgenutzt." Mit all dieser Muse wird Xosar bald nicht nur die ersten Töne des neuen Projekts Body Tools hören lassen, sondern sich auch an ihr Album setzen. Sicherlich wird all das-um es in Kerri Chandlers Worten auszudrücken-„some sick shit".

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