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Homeless-Selfies sind der neueste geschmacklose Tiefpunkt des Selfie-Hypes

Mit dem entwürdigende Ausnutzen von Mittellosen nur um ein paar Likes abzustauben, hat die Online-Selbstdarstellung ein neues schamlos-niedriges Niveau erreicht.

Wir leben in ungleichen, ungerechten Zeiten, noch nie ist das wohl so offensichtlich gewesen wie heute. 85 Menschen verfügen über so viel Reichtum, wie die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen. Alleine in den USA ist die Schere zwischen Arm und Reich inzwischen größer als unmittelbar vor dem Börsencrash von 1928 und der folgenden Weltwirtschaftskrise. Damals benutzten die Kinder der Industrie-Magnaten aber immerhin noch keine Smartphones um die Entwürdigung ihrer weniger privilegierten Mitmenschen auch noch konstant zu dokumentieren.

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Für die Reichen von Heute multipliziert sich ihre Lebensqualität wie ein Schwarm sich selbst reproduzierender Nano-Roboter. Andauernd erscheinen neue Technologien zur Steigerung ihres Komforts—automatisierte Netzwerkanwendungen, „smarte“ Häuser, ein sich stets weiter entwickelndes Ökosystem von Apps und Diensten, das iPhone-Besitzern neue Annehmlichkeiten bietet. Und die Popkultur absorbiert den Geschmack der technikaffinen Ober- und Mittelklasse, während die Nachrichten damit gefüllt werden über neue Spiele im App-Store oder die Etiquette von Selfies zu diskutieren.

Währenddessen gibt es aber immer noch zahlreiche ärmere Menschen, die noch nicht einmal wissen, was ein Selfie ist. Wie D. Watkans, Autor und Professor der Coppin State University, festgestellt hat, existiert eine ganze Klasse an Menschen, die „zu arm für die Teilhabe an der Popkultur" sind.

Einige privilegierte, zumeist weiße Kids haben sich in den USA nun daran gemacht diese gesellschaftliche Trennung auf die widerwärtigste vorstellbare Art und Weise zu überbrücken—in dem sie Selfies mit Obdachlosen machen und sie auf Instagram oder Twitter posten. Soziale Netzwerke haben schon viel zweifelhaftes Verhalten der jungen Reichen erlebt, aber dies hier ist ein neuer Tiefpunkt. Und während die Facebook-Kampagne „Sauberes Hamburg“ ihre Hetze gegen Obdachlose vor rund einem Jahr satirisch gemeint hatte, so scheinen diese Instagram-Kids hier in allem unschuldig-unreflektiertem Ernst vorzugehen.

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Der Trend ist noch nicht ganz viral gegangen, aber er ist verbreitet genug, als dass er Jason Feifer—einem Betreiber einer Reihe von Blogs, die Selfie-Verhalten dokumentieren—aufgefallen ist. Sein Resultat ist „Selfies With Homeless People“, und es ist ziemlich verstörend.

„Das Phänomen ist durchaus schon weit verbreitet, aber es gleicht noch keiner Epidemie“, erzählte mir Feifer. Sein letztes Projekt, „Selfies at Funerals“ ist ausgiebig diskutiert worden. Aber die aktuelle Entwicklung hat eine ganz andere Qualität. Die Bilder auf seinem neuen Blog zeigen einen Ausschnitt den Feifer nach einer einfachen Suche auf Instagram gesammelt hat. Die Nutzer taggen und beschreiben die Bilder tatsächlich mit den relevanten Schlüsselwörtern, wenn sie sie teilen. „Es gibt noch andere Bilder da draussen, die ich hätte aufnehmen können. Und ich bin mir sicher, dass es auch noch viele weitere gibt, die ohne Schlüsselwörter wie „Selfie und Homeless“ hochgeladen wurden, durch die ich zu meiner Auswahl gekommen bin.“

Ich fragte Feifer danach, was ihn an diesen Bildern am meisten sprachlos machte. „Zwei Dinge fallen mir auf“ sagte er, „Die Anzahl an Menschen, die ihre Zunge rausstrecken und ein Daumen-Hoch-Zeichen zeigen. Warum entscheiden sich so viele Menschen dazu so etwas zu tun, ohne dass sie dabei voneinander wissen? Das ist schon erstaunlich.“

Eine solche ausschweifende Nicht-Sensibilität zu sehen, mag erschreckend sein, aber der dahinter liegende Trend ist alles andere als überraschend. Plattformen wie Facebook und Instagram haben in uns den Drang gestärkt persönliche Geschichten zu finden, die es wert sind online geteilt zu werden. Schockierende, lustige oder beeindrucke Bilder werden mit Likes belohnt, und so ist es nicht schwer zu verstehen, warum Objekte, Städte und sogar Menschen als Trophäen einer Timeline wahrgenommen werden, die dir digitalen Respekt einbringen soll.

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Für dumme reiche Kids ist es inzwischen wohl einfacher als je zuvor sich über die Bettelarmen lustig zu machen, ohne sich dabei schuldig zu fühlen—sondern stattdessen die Bilder in ihren sozialen Kreisen ganz selbstverständlich und komfortable zu teilen. Wenn du dies mit dem beharrlichen kulturellen Vorurteil kombinierst, dass die Armen faul und minderwertig sind, und ihre Lebensumstände irgendwie verdient haben, dann kannst du hier eine hässliche Wendung in der Geschichte selbstbestimmter Mediennutzung erkennen.

Selfies sind natürlich das gefeierte popkulturelle Phänomen der Stunde; das Wort wurde inzwischen in das Oxford Wörterbuch aufgenommen, Präsidenten knippsen sie, und sie sind das Thema unzähliger Trendstudien der kommentierenden Klasse. Aber die Armen und Obdachlosen sind von all dem ausgeschlossen, wie der Autor D. Watkins in einem kürzlich veröffentlichten Essay über das Leben im Osten Baltimores deutlich macht.

„Miss Sheryl besitzt keinen Computer und wüsste ganz bestimmt nicht, was ein Selfie ist“, beschreibt er darin eine Freundin. „Ihr Handy läuft höchstens einige Minuten und hat auch gar keine Kamera. So wie viele von uns, ist sie zu arm, um am popkulturellen Leben teilzuhaben. Sie ist auf öffentliche Unterstützung angewiesen, wohnt in staatlichen Wohnungen und muss sich an eigenartige Jobs klammern, um überleben zu können.“ Die Menschen die Watkins beschreibt, sind zu arm und arbeiten zu lang, um ein frivoles kulturelles Leben verfolgen zu können.

Einige von ihnen partizipieren nun also doch in der neuesten popkulturellen Entwicklung, wenn auch ungefragt und missbräuchlich eingespannt, damit andere ein paar Likes abstauben können. All das hat einen ziemlich dystopischen Beigeschmack—die technologielosen Armen, die als Primitive im Zoo der Social Media Timelines ausgestellt werden.

In diesem Sinne ist all dies auch eine spezifische Art der Entwürdigung, die wir hier erleben, sagt Feifer. Als ich ihn danach fragte, warum Selfies mit Obdachlosen seiner Meinung nach besonders anstössig sind, drückte er sich unmissverständlich aus: „Wegen der offensichtlich hämischen Absicht, die dahinter steckt, sind diese Fotos voller Bösartigkeit. Ich wüsste nämlich keinen anderen Grund, warum diese Bilder gemacht werden.“