Gemälde in Grünfarben mit einem Kind, das eine Flasche an den Mund gehalten bekommt. Drei Menschen erzählen, wie es war, mit alkoholkranken Eltern aufzuwachsen.
Bild: IMAGO / Panthermedia
Drogen

Wie es ist, mit alkoholkranken Eltern aufzuwachsen

"Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass der coole Papa, den ich mal kannte, nicht mehr existiert. Es gibt nur noch das Arschloch, das unser Leben zerstört hat." – Zéphyr, 23
CL
Brussels, BE

Ich habe eigentlich nur fröhliche Erinnerungen an die Momente, in denen meine Eltern Alkohol getrunken haben. Das waren vor allem große Familienessen und Feiern. In anderen Familien ist Alkohol eine Sucht, die alles zerstört – die betroffene Person selbst und ihre Angehörigen. Als Kind ist man hilflos ausgeliefert. 

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Die Psychiaterin Caroline Depuydt ist Oberärztin an der psychiatrischen Klinik Epsylon in Brüssel. Im Laufe ihres Berufslebens hat sie schon viele Patientinnen und Patienten behandelt, die bei alkoholkranken Eltern aufgewachsen sind. Diese Kinder sind überdurchschnittlich oft Gewalt ausgesetzt – verbaler oder körperlicher – und werden häufiger vernachlässigt. Das zwingt sie dazu, sich um Vieles selbst zu kümmern, manchmal auch die eigene Bildung. Auch wenn sich die Schicksale unterscheiden, haben sie doch etwas gemein: Kinder alkoholkranker Eltern fühlen sich einsam.


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Außerdem würden Kinder alkoholkranker Eltern viermal so häufig selbst alkoholkrank wie der Rest der Bevölkerung, so Depuydt. Neben der genetischen Veranlagung kann auch die Familiendynamik Einstellungen und Verhaltensmuster beeinflussen, die Risikofaktoren für Sucht darstellen.

Zéphyr, Camille und Ingrid mussten alle mitansehen, wie mindestens ein Elternteil in eine Alkoholsucht abrutschte. Die drei heißen eigentlich anders, aber um ihre Privatsphäre und die ihrer Angehörigen zu schützen, verwenden wir hier nicht ihre echten Namen. 

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"Die Sache ist die: Du kannst einen Alkoholiker nicht retten. Entweder du gehst oder du bleibst, aber beides tut weh."

"Bis zu einem gewissen Alter hatte ich eigentlich eine glückliche Kindheit. Mein Vater war schon immer der Impulsive in unserer Familie gewesen. Als ich klein war, war das toll. Da kamen von ihm Sachen wie: 'Du magst doch Heißluftballons oder? Wir fliegen morgen in einem!'

Als ich so zwölf-dreizehn war, hörte er mit dem Rauchen auf. Zuerst ersetzte er die Zigaretten mit Essen, aber bald griff er zu Alkohol. Er fing an, immer mehr und immer öfter zu trinken. Ich erinnere mich noch, dass ich als Teenager – so mit 15 – das Problem noch nicht wirklich verstand. Ich merkte nur, dass er nach der zweiten Flasche Wein richtig ätzend wurde – aggressiv und verletzend.

Nüchtern sah ich ihn morgens für 25 Minuten. Wenn er um 18 Uhr von der Arbeit nach Hause kam, hatte er eine Stunde später schon die erste Flasche getrunken. Beim Abendessen machte er den zweiten Wein auf. Um halb neun war auch der leer. Bald aßen wir nicht mehr abends als Familie zusammen, weil es immer in einem Streit oder mit Tränen wegen irgendwelcher Nichtigkeiten endete. 

Meine kleine Schwester und ich begannen, uns aus dem Familienleben auszuklinken. Wir versuchten, so wenig wie möglich zu Hause zu sein. Ich fand Zuflucht in Computerspielen: Sobald ich von der Schule nach Hause kam, nahm ich mir etwas zu Essen und zockte. 

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Als ich 18 war, ging es richtig bergab. Eines Tages sagte mein Vater etwas in der Art von: 'Ich muss hier raus. Ich werde hier hängenbleiben und mein Leben verschwenden, wenn ich bleibe.' Aber erstmal blieb er noch. In dieser Zeit hockte er viel im Dunkeln und lötete sich schweigend das Hirn weg. Da war er bereits bei drei Flaschen pro Tag. Abgesehen von gelegentlichen Streitereien und Anbrüllen haben wir in dieser Zeit kein Wort gewechselt. Es war eh sinnlos, nach 20 Uhr noch mit ihm zu reden. Er konnte sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern. 

“Ich hatte erkannt, dass ich in ihm etwas suchte, das nicht mehr da war.”

Irgendwann begann er, Spezialisten aufzusuchen, aber sobald diese ihm sagten, dass er einen Entzug machen muss, suchte er sich jemand Neues. Ein Psychiater verschrieb ihm Schmerzmittel und mein Vater fing an, sie mit Alkohol zu kombinieren. Er hörte bald aber wieder damit auf, weil er meinte, er würde dadurch seinen 'Schwung' verlieren.

Vier Monate nach seiner Ankündigung verließ uns mein Vater. Es war eine Art Erleichterung, aber er hat bis heute eine gewisse Macht über mich. Manchmal schickt er mir wirre E-Mails. Einige sind Entschuldigungen und Liebesbekundungen, die anderen sind voller Beleidigungen und 'du hast mein Leben ruiniert'-Vorwürfen. Ich habe ihn noch ein paar Mal gesehen, nachdem er uns verlassen hatte, aber ließ es schließlich bleiben. Ich hatte nämlich erkannt, dass ich in ihm etwas suchte, das nicht mehr da war. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass der coole Papa, den ich mal kannte, nicht mehr existiert. Es gibt nur noch das Arschloch, das unser Leben zerstört hat.

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Früher war ich wütend auf ihn, aber darunter litt vor allem ich selbst. Die Sache ist die: Du kannst einen Alkoholiker nicht retten. Entweder du gehst oder du bleibst, aber beides tut weh. Es hat mich fertiggemacht, dass er nicht gemerkt hat, in was für einem Loch er lebte, einem Paralleluniversum.

Der Alkoholismus meines Vaters hat meine eigene Identität beeinflusst. Ich muss sehr auf mich aufpassen, ich will nämlich auf keinen Fall enden wie er. Wegen seiner Beleidigungen habe ich riesige Probleme mit meinem Selbstwertgefühl. Meine Schwester hat vielleicht sogar noch mehr damit zu kämpfen und meine Mutter musste ebenfalls ihren Preis für sein Verhalten zahlen. Ich versuche, so viel wie möglich für sie da zu sein, aber es ist schwer, nach so etwas wieder ein Familienleben aufzubauen.

Abgesehen davon kann ich den Geruch von Rotwein nicht mehr ausstehen. Er ekelt mich an." – Zéphyr, 23

"Ich habe ständig Angst, selbst Alkoholikerin zu werden."

"Ich habe meinen Vater noch nie nüchtern gesehen. Er ist Alkoholiker seit dem Studium. Die paarmal, die ich ihn Wasser trinken sah, war das extrem ungewohnt für mich. 

Durch ihn kenne ich alle Arten, beim Autofahren eine Dose aufzumachen. Er sagte immer, er würde betrunken besser fahren als ein nüchterner Fahranfänger. Es ist verrückt, für wie unbesiegbar sich Alkoholiker halten. Er trank so viel, dass gar nicht mehr auffiel, dass er ständig betrunken war. Ich erinnere mich, wie er einmal auf meinen kleinen Bruder fiel. Das hat mich traumatisiert, weil mir in dem Moment klar wurde, dass er sich wirklich nicht mehr unter Kontrolle hatte.

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Ich habe meinen Vater gehasst. Seine Arbeit und der Alkohol hatten für ihn oberste Priorität, wir kamen ganz zuletzt. Ich kann auch nicht sagen, dass er mich erzogen hätte. Er hat mir Geld gegeben. Das war's. Wenn er um 19 Uhr von der Arbeit nach Hause kam, aß er was und ging anschließend auf die Veranda, um zu trinken und zu rauchen. Er weiß, dass er Alkoholiker ist, aber ihm ist das egal – und das lässt er uns auch wissen. Ich bin mir sicher, dass er irgendwann Gesundheitsprobleme bekommen wird und mein Bruder und ich ihn dann pflegen müssen.

“Einmal hat sich meine Mutter während der Fahrt vollgekotzt. Das wurde uns am nächsten Tag klar, als wir das Erbrochene im Auto sahen.”

Meine Eltern haben sich getrennt, als ich zwölf war. Meine Mutter verließ meinen Vater wegen seiner Trinkerei. Nach der Trennung fing sie dann aber selbst damit an. Am Anfang war es noch ein Glas Wein zum Kochen, aber bald wurden daraus zwei, dann drei und so weiter. Dabei verträgt sie überhaupt keinen Alkohol. Nach ein paar Gläsern wird sie richtig dumm. 

Als sie sich noch um mich und meinen Bruder kümmern musste, war alles halbwegs unter Kontrolle. Sie hatte schließlich Verantwortung. Mit der Zeit wurde es aber schlimmer. Es gab eine Phase, in der sie sich ständig betrank, jeden Tag. Manchmal stieg sie stockbesoffen ins Auto, um Zigaretten zu kaufen. Dabei konnte sie nicht einmal geradeaus gehen. Einmal hat sie sich während der Fahrt vollgekotzt. Das wurde uns am nächsten Tag klar, als wir das Erbrochene im Auto sahen. 

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Alkohol hat in meinem Zuhause viel Gewalt ausgelöst. Die Sucht meiner Mutter brachte meinen Stiefvater an seine Grenzen. Einmal musste ich den Krankenwagen rufen, weil er sie geschubst hatte und sie hingefallen war. Manchmal kam ich morgens nach unten und dachte, bei uns wäre eingebrochen worden. Es herrschte so ein Chaos. Aber meine Mutter war in der Nacht nur mal wieder durchgedreht, weil mein Stiefvater sie vom Trinken abgehalten hatte. 

Heute trinkt meine Mutter nur noch an bestimmten Abenden in der Woche. Sie war bei ein paar Therapeuten und Ärzten, aber bislang hat nichts wirklich funktioniert. Im Gegensatz zu meinem Vater versucht sie es wenigstens. 

Unsere Familiendynamik beeinflusst mich immer noch stark. Ich habe ständig Angst, selbst Alkoholikerin zu werden. Immer wenn ich ein bisschen zu viel feiern war, lege ich sofort eine dreimonatige Alkoholpause ein. Ich will sichergehen, dass ich nicht süchtig werde. Meine Eltern sind noch immer eine große psychische Belastung für mich. Ich bin ständig auf den einen verhängnisvollen Anruf gefasst, dass meine Mutter in einem Autounfall gestorben sei oder mein Vater Krebs im Endstadium habe." – Camille, 23 

"Sie lief nur noch mit schmutzig-fleckiger Haut und zerzausten Haaren rum. Sie war nicht mehr meine Mutter."

"Meine Eltern trennten sich, als ich 13 Monate alt war. Die Scheidung war kompliziert. Ich lebte die meiste Zeit bei meiner Mutter und jedes zweite Wochenende ging ich zu meinem Vater. Zuhause trank meine Mutter jeden Tag mit meinem Stiefvater. Zuerst noch zusammen mit Freunden, dann immer öfter zu zweit. Alkohol wurde zum wichtigsten Punkt auf der Einkaufsliste. Zu Hause standen überall Rotweinkisten.

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Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass das problematisch war. Es war nicht sofort offensichtlich, weil bei uns zu Hause ständig laut geredet und geschrien wurde – ein bisschen wie im Theater. Ich wusste also nicht wirklich, was durch den Alkohol kam und was nicht. Als ich 16 war, begann ich, die Dinge etwas klarer zu sehen, und versuchte, das Thema nebenbei anzusprechen. Die Reaktion meiner Mutter und meines Stiefvaters fiel extrem unterkühlt aus und ich verstand, dass es besser war, den Mund zu halten. 

Mein Stiefvater war 18 Jahre älter als meine Mutter und ging entsprechend früher in Rente. Seine neue Tagesroutine bestand darin, sich um 11 Uhr das erste Glas Wein einzuschenken. Als meine Mutter dann ebenfalls in den Ruhestand ging, war das der Abstieg in die Hölle. Ich bekam um 3 Uhr morgens Anrufe von der Feuerwehr, dass meine Eltern im Krankenhaus seien, die Treppe runtergefallen wären oder nicht mehr aus der Badewanne kamen. Ich hatte von diesen nächtlichen Anrufen schnell die Schnauze voll. Es gab Zeiten, in denen meine Mutter mich regelrecht in den Wahnsinn trieb. Sie machte mich aggressiv. Ich hätte sie fast verprügelt. 

“Einmal kletterte mein Sohn in den Stuhl, auf dem meine Mutter gesessen hatte. Er war vollgepinkelt.”

Als ich dann vor über 20 Jahren selbst Mutter wurde und meine Mutter auf meine Kinder aufpassen musste, war das eine Katastrophe. Als ich einmal anrief, um zu checken, ob alles OK ist, nahm meine achtjährige Tochter ab und sagte: 'Oma schläft seit Stunden auf dem Sofa.' Irgendwann wollten meine Kinder auch nicht mehr, dass meine Mutter zu ihren Geburtstagsfeiern kommt. Sie war vor ihnen hingefallen und hatte dabei den Couchtisch zerstört.

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Ich habe Erinnerungen daran, wie meine Mutter bei einer Weihnachtsfeier alle stehengelassenen Weingläser austrank. Einmal kletterte mein Sohn in den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Er war vollgepinkelt. Ich sehe heute noch seine nasse Hose vor meinen Augen. Vor Kurzem erst hat meine Tochter mir erzählt, dass ihre Oma einmal in die falsche Richtung auf die Autobahn gefahren sei und dann auf dem Seitenstreifen gehalten habe. Meine Tochter und mein Sohn auf dem Rücksitz.

Irgendwann ging es einfach nicht mehr und ich sagte meiner Mutter, dass ich sie nicht mehr auf die Kinder aufpassen lasse. Sie war sauer auf mich und versuchte, meine Kinder gegen mich aufzuhetzen. Gleichzeitig sagte sie mir, dass ich meine 'Scheißkinder' gerne für mich behalten kann. 

2013 starb mein Stiefvater und es wurde noch schlimmer. Sie lief nur noch mit schmutzig-fleckiger Haut und zerzausten Haaren rum. Sie war nicht mehr meine Mutter. Ich gab mir große Mühe, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie selbst verleugnete alles und wir konnten nicht normal miteinander sprechen. Ich glaube, es war nicht nur ihre Trinkerei, die uns auseinandertrieb, sondern auch ihre Angst, verurteilt zu werden. Tatsächlich verurteilte ich sie nicht, ich zog lediglich Grenzen. 

2016 fand man sie tot in ihrer Wohnung. Weil sie alt und Alkoholikerin war, gab es keine Autopsie, aber ich glaube, es war ein Suizid durch Alkohol. Sie wollte unbedingt bei meinem Stiefvater sein. Es ist hart, jemanden so abstürzen zu sehen. Ich war lange wütend auf sie. Ich glaube, der Zorn erlaubte es mir, nicht traurig zu sein. Heute habe ich endlich meinen Frieden gefunden und kann mich an meine Mutter erinnern, wie sie vor der Trinkerei war.

Zum Glück habe ich selbst keinen Hang zum Alkohol. In meinem Leben bin ich nur zwei- oder dreimal betrunken gewesen und ich vertrage Alkohol nicht gut. Beim letzten Mal ging es mir drei Tage danach noch schlecht. Damit ziehen mich meine Kinder mich immer noch gerne auf. Ich glaube, ich meide Menschen, die zu viel trinken. Ich habe jedenfalls keine in meinem Freundeskreis und mein Mann trinkt gar nicht.

Meine Kinder und ich haben eine Transparenzvereinbarung. Mir ist lieber, dass sie mir von ihren Eskapaden berichten, auch wenn es nicht immer leicht mitanzuhören ist. Aber lieber so, als etwas vor mir zu verstecken. Sie wissen, dass sie mit mir über alles reden können. Wer weiß, ob unser Verhältnis immer so sein wird, aber ich schätze mich glücklich, dass es momentan der Fall ist, wo sie noch jung sind." – Ingrid, 50

Du hast ein Alkoholproblem oder machst dir Sorgen um betroffene Freunde und Verwandte? Ob du gefährdet bist, kannst du bei kenn-dein-limit testen. In Deutschland erhältst du Hilfe bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: 0221 89 20 31. In der Schweiz kannst du dich über das Suchtportal informieren. In Österreich findest du Beratung über den Suchthilfekompass

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