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"Niemand will Bulle sein" – Ist der Polizeiberuf zu unattraktiv?

Die Polizei will mehr und bessere Bewerber. Lust darauf? Am besten hast du keine Tattoos und einen Nebenjob.
Foto: imago | PEMAX

"Niemand muss Bulle sein", heißt es in einem Song der deutschen Punkband Feine Sahne Fischfilet. T-Shirts oder Jutebeutel mit dem Slogan wurden vielfach verkauft und werden in jungen Stadtteilen wie der Hamburger Sternschanze oder Berlin-Kreuzberg stolz getragen. In Berlin könnte der Slogan mittlerweile aber anders heißen: "Niemand will Bulle sein".

1.200 neue Stellen schreibt die Polizei Berlin für 2018 aus. Ganze 6.000 Bewerbungen gingen bis vergangene Woche ein. Zu wenig, findet die Polizei. "Nur jeder 10. bis 15. Bewerber wird unseren hohen Anforderungen gerecht", so der Berliner Polizeisprecher Thomas Neuendorf gegenüber VICE. "Es fallen sehr viele Bewerber durch."

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So sollen viele Bewerber die deutsche Rechtschreibung zu schlecht beherrschen, seien nicht sportlich genug. Und offenbar haben sie auch ein Problem mit der Einstellung. Laut Neuendorf scheitern schon 20 bis 30 Prozent der Bewerber beim Online-Test vor der eigentlichen Prüfung. "Den kann man nicht mal eben auf dem Smartphone in der Bahn machen", so der Beamte. "Ich habe das Gefühl, dass einige Bewerber das nicht ernst nehmen."

Deshalb verlängerte die Berliner Polizei den Bewerbungszeitraum für den Nachwuchs bis zum 31. August. "Wenn wir nicht genügend geeignete Bewerber haben, können wir nicht die geplante Anzahl an Schülern beginnen lassen", so Neuendorf. Der Plan B sei, entweder auf das kommende Jahr zu warten – oder Werbung zu machen. Und die ist offenbar bitter nötig, und zwar bundesweit.

Attraktivität der Polizei: zwischen hässlich und sexy

Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, schlug in gewohnter Manier schon 2016 Alarm. In der Heilbronner Stimme sprach er von einem "massiven Nachwuchsmangel". Laut Wendt seien die Bewerberzahlen bundesweit "teilweise um etwa 40 Prozent" eingebrochen. Die Polizei verliere als Arbeitgeber an Attraktivität.

Die neueste Polizeiliche Kriminalstatistik offenbart, dass Angriffe auf Polizisten oder Rettungskräfte im Jahr 2016 um 11,2 Prozent angestiegen sind. Beinah täglich berichten Medien über Polizisten, die im Dienst angepöbelt oder angegriffen wurden. Währenddessen werfen fragwürdige Auftritte bei Demonstrationen und Massenveranstaltungen oft ein schlechtes Licht auf den Freund und Helfer. Vor einigen Wochen beim G20-Gipfel in Hamburg kritisierten Experten die explosive Taktik der Beamten und Polizisten sprachen selbst von Polizeigewalt. Die ganze Welt konnte zusehen, wie Beamte in Kampfmontur auf Journalisten und Demonstranten einprügelten. Obwohl Polizisten in Deutschland die meiste Zeit wohl friedlich und freundlich Dienst nach Vorschrift machen, bleiben am Ende diese Bilder im Kopf. Der Slogan ACAB prangt an Häuserwänden, auf Bannern in Fußballstadien und auf Demo-Shirts. ACAB ist schon lange kein Anarcho-Protest mehr, ACAB ist Popkultur.

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"Die Polizei ist ein attraktiver Arbeitgeber", so Polizist Neuendorf. "Gewerkschaften überbetonen immer die Mängel und Schwierigkeiten." Eine Studie, die auf der Website der Polizei Berlin zitiert wird, soll diese Attraktivität untermauern. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Trendence wählten 20.000 Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 13 die Polizei bei einer Befragung auf Platz eins ihrer Wunsch-Arbeitgeber. Vor Adidas und der Bundeswehr. Auch in Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg gab die Polizei in den letzten Jahren freudig steigende Bewerberzahlen an.

Anders ist das in Sachsen-Anhalt. Weil die Bewerberzahlen dort seit 2011 kontinuierlich sanken, vereinfachte die dortige Landespolizei im vergangenen Jahr den Einstellungstest. Der Numerus clausus wurde ausgesetzt, das Deutsch-Diktat wurde leichter. Die Bundestagsabgeordnete und Ex-Polizistin Irene Mihalic warnt vor solchen Schritten. "Polizistinnen und Polizisten tragen viel Verantwortung und müssen häufig in wenigen Minuten oder Sekunden rechtssichere Entscheidungen treffen", so die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen gegenüber VICE. "Daher müssen auch die persönlichen Anforderungen auf hohem Niveau sein." Thomas Neuendorf pflichtet ihr bei: "In Berlin haben wir nicht die Absicht, die Einstellungsanforderungen zu senken."

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Keine Tattoos und am besten ein Nebenjob

Polizei ist Ländersache. Die Länder konkurrieren untereinander, mit der Bundespolizei und mit der freien Wirtschaft um den Nachwuchs. "Jeder will die besten Leute bekommen", so Neuendorf. Da die Länder alle verschiedene Einstellungskriterien haben, bewerben sich viele Anwärter in ganz Deutschland. So gibt es in Bremen keine Mindestkörpergröße, in Berlin aber wurde eine 1,54 Meter große Bewerberin wegen der Mindestgröße von 1,60 Meter abgelehnt. Tattoos werden mal toleranter, mal strikter beurteilt – für junge Leute oft ein weiterer Grund, nicht zur Polizei zu gehen. "Die Tattoo-Frage wird in Berlin kontrovers diskutiert", so Neuendorf. "Die Schwierigkeiten liegen im Detail. Sollen wir kontrollieren, was für Sprüche das sind? Sind Bilder von Blümchen in Ordnung und ein Stinkefinger nicht?"

Gerade Berlin steht besonders im Fokus. Denn Berlin bezahlt seine Polizisten bundesweit am schlechtesten. 1.500 Beamten – also fast zehn Prozent der Berliner Polizisten – wurde ein Zweit-Job genehmigt, wie die Berliner Innenverwaltung dem rbb bestätigte. Sie verdienen sich als Hausmeister, Komparsen, Kellner oder Taxifahrer etwas dazu, berichtet der Tagesspiegel. "Polizeiarbeit ist anspruchsvoll und sollte daher generell im gehobenen und höheren Dienst angesiedelt sein", so die ehemalige Polizistin Mihalic. Polizisten sollten dementsprechend entlohnt werden. Sie kritisiert die unterschiedliche Besoldung durch die föderale Regelung. "Ein Fehler, der nur schwer zu korrigieren ist."

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Berlin will statt mit Geld mit "Berlin" punkten. "Die Bezahlung ist für viele Bewerber nicht der wichtigste Punkt", so Neuendorf. "Wir werben mit den interessanten Aufgaben in der Hauptstadt und einer weltoffenen Metropole."

Es fehlen Bewerber mit Migrationshintergrund

Weltoffen will auch die Polizei sein. "30 Prozent der Bewerber haben einen Migrationshintergrund", so Neuendorf. Das ist bundesweit Spitze. Andere Länder sind weit davon entfernt. Im Jahr 2015 lag der Migranten-Anteil bei den Neueinstellungen der Polizei in NRW bei 11,7 und in Schleswig-Holstein bei lediglich 3,1 Prozent. Zum Vergleich: 22,5 Prozent aller Deutschen haben einen Migrationshintergrund. "Aus den Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen wissen wir, dass es bisher nur sehr eingeschränkt gelungen ist, die Polizei weiter in alle gesellschaftlichen Gruppen hinein zu öffnen", so Mihalic.

Genug Leute wird die Polizei bundesweit in Zukunft brauchen. Berechnungen der Gewerkschaft der Polizei zufolge sollen bis 2021 etwa 56.000 künftige Polizistinnen und Polizisten nach ihrer dreijährigen Ausbildung den Dienststellen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig sollen aber rund 44.000 Beamte aus dem Dienst ausscheiden. Alleine die Landespolizei Berlin will in den kommenden Jahren jeweils 1.200 neue Beamtinnen und Beamte einstellen: dreimal so viele wie im Jahr 2008. Die ACAB-Fraktion und "Keiner muss Bulle sein"-Shirt-Träger werden sich wohl nie bewerben. Um die Unentschlossenen zu überzeugen, muss aber noch einiges passieren. Das weiß auch Polizist Neuendorf: "Jeder kann die Polizei kritisch betrachten. Wir wissen: Da, wo Fehler gemacht werden, müssen wir uns verbessern."

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