Kein Bock mehr auf Berliner Clubs—wie Paul Kalkbrenner Amerika erobern will

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Kein Bock mehr auf Berliner Clubs—wie Paul Kalkbrenner Amerika erobern will

Mit ‚7' will Paul Kalkbrenner amerikanische Elektrofans fernab von EDM für sich gewinnen.

Es ist der Donnerstag, bevor Paul Kalkbrenner—Deutschlands erfolgreichster Technomusiker und Teilzeitschauspieler—seine brandneue Live-Show zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten aufführt. Das Spektakel soll in einer noch unbekannten Lagerhalle in Brooklyn stattfinden.

Pauls Manager teilt mir mit, dass Paul seinen Anschlussflug verpasst hat, nachdem er ein paar Minuten zu spät beim Gate in Toronto angekommen war. Beim Warten auf den in Ostberlin geborenen Livemusiker (nein, Paul Kalkbrenner ist kein DJ) im Standard Hotel vom East Village, mache ich mir langsam Sorgen, ob sich diese Verspätung nicht doch in einem abgehetzten und verkürzten Interview mit einem abgelenktem und frustriertem Gesprächspartner niederschlagen wird. Als Paul dann aber endlich in einem schicken Adidas-Shirt und mit einer noch viel schickeren Sonnenbrille ankommt, sich mit einem freundlichen Lächeln vorstellt und in aller Ruhe eine Marlboro Menthol ansteckt (davon raucht er während unseres Gesprächs zwei, ohne sich groß um die strickten Rauchverbote in New York zu scheren), sind alle Sorgen verflogen. Paul ist nicht nur außerordentlich bescheiden (und unangestrengt cool), sondern lässt sich auch von niemandem eine gepflegte Unterhaltung unterbrechen, selbst wenn das seinen Auftritt bei Men in Blazers verzögert—einem beliebten Fußball-Podcast, in dem er als Gast über die anstehende Bundesliga Saison und seinen Lieblingsverein Bayern München reden wird.

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Paul beim Men in Blazers Podcast

Aber Paul ist nicht nur hier, um über Fußball zu reden. Die anstehende Show ist auch seine erste Chance, einem amerikanischen Publikum sein brandneues siebtes Album mit dem unprätentiösen Titel 7 vorzustellen. Dabei wird die Musik von einer wunderbaren, neuen Bühnenproduktion unterstützt, zu der auch 12 rotierende LED-Interfaces gehören. Nachdem er bislang seine Musik immer über deutsche Independent-Label wie Ellen Alliens B-Pitch Control und sein eigenes, Paul Kalkbrenner Music, veröffentlicht hat, wird 7 über die Antithese derartiger Elektro-Indies erscheinen: Sony/Columbia. Sein Vertrag mit der megalithischen Organisation ist dabei Teil eines über mehrere Jahre laufenden Deals und bildet den Beginn eines neuen Kapitels seiner Karriere.

„Wenn ich vor zehn Jahren zu einem Major gegangen wäre, hätten die mich nur verarscht", sagt Kalkbrenner. „Seit Berlin Calling hatten wir viele Anfragen von Majorlabels, aber die hier war wirklich ‚major'."

Auch wenn er hier in Deutschland schon ein Superstar ist—er hat nicht nur für die Bundeswehr in Afghanistan gespielt, sondern zum 25-jährigen Mauerfall auch vor 500.000 Menschen vor dem Brandenburger Tor—international hatte Paul Kalkbrenner bisher noch keinen Erfolg. Sein Zusammenarbeit mit einem weltweit agierenden Label soll das jetzt aber ändern: „Ich habe Fans in Ländern wie Litauen und Peru, aber ich kann mich einfach nicht darum kümmern", sagt er.

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Als Teil dieses neuen Deals sicherte Sony Kalkbrenner zu, ein größeres globales Publikum zu erreichen—vor allem in den USA und fernab vom kommerzielleren EDM-Bereich. „Für mein letztes Album Guten Tag habe ich auf den Hauptbühnen der größten Musikfestivals gespielt, aber nur 6.000 Platten verkauft. Das war schon eine riesige Diskrepanz, die ich [mit meinem eigenen Label] nicht auflösen konnte. Der Vertrag mit Sony war der nächste logische Schritt—es fühlte sich richtig an", so Kalkbrenner. Wie viele andere Künstler, die auf Majorlabels veröffentlichen, beinhaltete Kalkbrenners Deal auch einige der üblichen Bedingungen, die in dem Geschäft üblich sind: Zum Beispiel steht das neue Album 7 auch bei Spotify zum Stream bereit. Kalkbrenner ist aber keiner, der das sofort alles verteufelt. Er unterstützt die Veränderungen, die die Streaming-Industrie mit sich bringen und ist überzeugt, dass sein Bild als Künstler darunter nicht leiden wird. „Die Majors wissen inzwischen auch, dass die Landschaft sich gerade sehr ändert und dass dieses ‚normale' Plattengeschäft eines Tages vorbei ist. Das lässt sie kreativ werden", sagt er.

Paul Kalkbrenner 2014 vor dem Brandenburger Tor (leider nur in Ausschnitten zu sehen)

Wie viele andere deutsche Produzenten war auch der junge Kalkbrenner, der in Ostberlin aufwuchs, nach dem Fall der Mauer ziemlich schnell von Techno fasziniert. Zusammen mit seinem Schulfreund Sascha Funke entwickelte er einen sehr minimalistischen Sound, der organische Melodien den Gesangsspuren bevorzugte, und seine spartanisch-hämmernde Kickdrum wurde synonym für einen Großteil der elektronischen Musik aus Berlin. Bei fast allen seiner Alben und Tracks—ironischerweise bildet sein mit Abstand bekanntester Song, „Sky and Sand", den er zusammen mit seinem Bruder Fritz als Titeltrack für den Berlin Calling-Soundtrack geschrieben hatte, dabei eine Ausnahme—kam er ohne Vocals aus.

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Während „Sky and Sand" Platin erreichte und mit 129 Wochen in den Single-Charts einen Rekord aufstellte, endete seine Verbindung mit dem Berliner Techno-Underground, kurz nachdem er sich dafür entschieden hatte, nur noch ausschließlich als Livekünstler aufzutreten. Mit seiner Entscheidung, nicht mehr aufzulegen, sondern auf der Bühne seine eigenen Produktionen mithilfe einer Armada an Maschinen und Oldschool-Mixern aufzuführen und zu arrangieren, wie er sie auch früher in seinem Studio verwendet hat (heute produziert er nur noch mit Laptop), distanzierte er sich auch vom Clubbetrieb. „Ich gehe nicht mehr in Techno-Clubs. Ich finde, dass Berlin viel mehr zu bieten hat als das Berghain. Am Wochenende geht es da vor der Tür zu wie im Kindergarten—das ist einfach lächerlich, das ist nicht meine Szene. Ich verstehe das Konzept nicht, Leute wegen ihrer Klamotten oder [welche DJs] sie kennen, nicht reinzulassen. Ich spiele Konzerte und jeder, der dafür ein Ticket kauft, ist willkommen. Meine Musik ist für alle", sagt er. „Ich war viele Jahre im Underground unterwegs, aber diese ‚Coolness-Falle', damit bin ich fertig."

Paul bei seinem Liveset in Brooklyn

Auch wenn sich Kalkbrenner außerhalb der manchmal ziemlich exklusiven Undergoundszene bewegt, ist seine Musik, jetzt mal abgesehen von „Sky and Sand", nicht unbedingt etwas, das man im Radio erwartet. Vor der Veröffentlichung von 7 hat er allerdings Zugang zu vielen von Sonys legendären Klangarchiven bekommen und ist damit der erste Künstler überhaupt, der einige der zeitlosen Acts wie Jefferson Airplane sampeln darf. Deren Klassiker „White Rabbit" liefert dann auch gleich die charakteristische Gesangsspur für den Albumtrack „Feed Your Head". Er gibt auch zu, dass seine Wahl, Vocals einzusetzen, auch von der Idee beeinflusst war, seine kommerzielle Reichweite zu vergößern und hoffentlich etwas Radiospielzeit zu bekommen. „Du musst Kompromisse eingehen und aus seiner Komfortzone kommen, um in einem Bereich erfolgreich zu sein, in dem du noch eine kleine Nummer bist—wie ich in den USA. Hier muss jemand in den Liedern singen, damit sie überhaupt im Radio gespielt werden."

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Mit der Veröffentlichung von 7, das direkt auf Platz 1 in die deutschen Albumcharts eingestiegen ist, aber bislang noch keine großen Erfolge auf dem britischen oder amerikanischen Markt verbuchen konnte, bewegt sich Paul Kalkbrenner in seinem Heimatland mit seinem schon jetzt erfolgreichem Album auf altbekanntem Terrain. Nichtsdestotrotz ist er nach Jahrzehnten im Geschäft noch immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten und Wegen—und das nicht nur, um sich nicht zu wiederholen, sondern auch um Neues zu erreichen. Mit der Präsentation seines neuen Livesets in einer ausverkauften gigantischen Lagerhalle in Brooklyn, zu der sich Horden jubelnder Musikliebhaber unter den wärmenden Lichtern der LED-Installation zusammengefunden haben, ist es eindeutig, dass auch Menschen außerhalb seines Landes lieben, was er macht—zumindest live. Jetzt stellt sich nur die Frage, wie er es schafft, sein neueren, mit ihm noch nicht so familiären Fans dazu bringt, sich von diesem One-Night-Stand auf etwas Längerfristiges einzulassen.

Paul Kalkbrenner ist auf Facebook. 7 bekommst du auch bei iTunes.

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