​„Polen hält sich für Jesus“—Feiern im Inner City Bergbau von Kattowitz
AtomTM & Robin Fox beim Tauron Nowa Muzyka. Alle Fotos von der Autorin

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Festivals

​„Polen hält sich für Jesus“—Feiern im Inner City Bergbau von Kattowitz

Neue Musik vs. erzkonservative Politik: Wir waren auf dem Tauron Nowa Muzyka-Festival in Polen und haben junge Polen getroffen.

Ein riesiges Gelände, eingerahmt von hellen Glasbauten auf der einen Seite und einem mächtigen backsteinernen Konzertsaal auf der anderen: Das ist das Zuhause des Tauron Nowa Muzyka, benannt nach einem polnischen Energieversorger. Das Gelände eines stillgelegten Kohlebergwerks liegt acht Busstunden von Berlin entfernt im polnischen Kattowitz. Eime Bergbaustadt, Universitätsstadt und gleich doppelte Bistumsstadt mitten in Śląska, das in Deutschland Schlesien heißt. Statt Baggern tönte nun ein vielseitiges Festivalprogramm, das den Spagat vom Jazz zum Techno machte.

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Alles begann am Donnerstagabend mit Piano Hooligan, der mit Orchester eine von Steve Reichs Minimal-Kompositionen aufführte, und endete Sonntagnacht mit dem Konzert von Kamasi Washington. Dazwischen spielten auffällig viele maskierte Musiker wie die polnische Experimentalgruppe T'ien Lai, die Kolumbianer La MiniTK del Miedo, aber auch rhythmische Klänge aus dem Congo oder aus Brasilien waren auf der Carbon-Stage zu vernehmen—kuratiert von einer Hälfte des polnischen Duos RSS B0YS, die sich selbst auch die Ehre gaben. Techno wurde auf der Red Bull Stage mit The Orb, Kassem Mosse oder Benjamin Damage präsentiert, aber auch polnischer Indie von Stara Rzeka oder elektronischere Töne von Maria Peszek. Umrahmt wurde das Line-up von Jazz-Ausflügen wie dem von Floating Points. Weibliche Acts haben es mit Ausnahmen wie Peszek und Lena Willikens allerdings kaum auf die Bühne geschafft.

Und trotz vieler Security war die Stimmung gut, die Bühnen gefüllt, auch wenn nicht so voll—etwas, das nach einem Festivalsommer richtig entspannend ist. Lebendig wurde das historische Gelände jedoch erst bei Nacht. Aber ein Festival zu besuchen, hat in Kattowitz noch mehr Bedeutung, als nur auf einem Festival zu sein.

Denn viele Freiräume für junge Leute gibt es im konservativ regierten Polen sonst nicht: Alkohol zu trinken in der Öffentlichkeit, steht unter Strafe. Wer nachts an dunklen Straßen—ohne Warnweste oder Leuchtstreifen—entlangläuft, muss ebenso mit einer Buße rechnen. Ein Grund mehr, warum Festivals Refugien sind.

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1989 führte die Gewerkschaftsbewegung Solidarność Polen in die Dritte Republik, 2004 wurden das Land Teil der Europäischen Union. Doch seit ein paar Jahren ändert sich der Kurs wieder: Die Arbeitslosigkeit ist aktuell mit unter 9 Prozent zwar niedriger als zuletzt, doch der rechte Kurs der neuen Regierung wirft Schatten. In Polen steht ein Mann an der Spitze, der der erzkatholischen Partei „Recht und Gerechtigkeit" angehörte, Abstand von der gleichgeschlechtlichen Ehe nimmt und sich gegen Abtreibung ausspricht.

Vom Katholizismus war auf dem Nowa Muzyka dennoch nichts zu spüren. Wir haben uns auf dem Festival umgehört und mit den Besuchern gesprochen:

Witek, 21, Tobiaz, 21, Karol, 19, aus Krakau

Thump: Wie hat's euch gefallen?
Witek: Ich war dieses Jahr auf einigen Festivals—Audioriver, Off Festival und Ostrava in Tschechien, aber das (TNM) war das mit dem besten Line-up. Kamasi Washington war mein Highlight, dazu Squarepusher mit Live-Band, King Midas Sound & Fennesz—und Actress war echt super.
Tobiaz: Ich war jetzt zum dritten Mal da und dieses Jahr war das Beste.

Wie kommt das?
Tobiaz: Wegen des Line-ups. Das ist genau meine Musik. Ich habe Squarepusher zwei Mal gesehen und Amon Tobin, Autechre und viele andere Jazz- und Elektrokünstler.

Passt solche Musik zu einer eher konservativen Gesellschaft wie der polnischen?
Witek: Für mich ist es keine konservative Gesellschaft. Ja, in Polen leben mehr Leute in traditionell Strukturen, aber ich bekomme das nicht mit und schon gar nicht auf dem Festival hier.

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Und wie ist das in deiner Heimatstadt Krakau?
Witek: Da ist es auch nicht so. Es kommt auf deine Crew an, auf die Leute, mit denen du rumhängst. Es ist nur Politik und das Bild, das Medien vermitteln, doch das Leben sieht anders aus. Ich denke, dass Leute im Ausland durch das Fernsehen einen falschen Eindruck bekommen.

Dann bist du nicht verheiratet und hast zwei Kinder?
Witek: Haha, nein. Solche Leute sind jetzt auch nicht in meiner Festival-Crew. Ich möchte aber auch nichts dagegen sagen, wir haben nur nichts miteinander gemein.

Agata, 23, aus der Nähe von Kattowitz

Was machst du hier?
Ich arbeite mit meinem Freund als Volunteer.

Dann gehst du oft aus?
Wir sind viel auf Festivals, vor ein paar Wochen waren wir auf dem Off Festival. Doch das war fast ein bisschen langweilig, ohne zu arbeiten.

Wie gefällt's dir hier?
Ich habe gerade zu viele Möglichkeiten, es gibt so viel Ablenkung nicht nur auf, sondern auch zwischen den Bühnen.

Kann man denn sonst in Kattowitz auch gut ausgehen?
Wir haben ein Problem mit Clubs. Ich mag die Läden nicht so gerne. Es gibt zwei Undergrounds-Clubs. Einer heißt Prepar, möchte ein kleines Berghain sein, deshalb haben sie eine besonders harte Türe und dann gibt es noch den Drum 'n' Basa-Club INQbator—auch nicht ganz meines.

Lebst du trotzdem gerne in Kattowitz?
Ich habe zwar nur einen kleinen Freundeskreis, aber ich lebe gern hier.

Aleks, 25, aus dem Umland

Bist du aus der Stadt?
Ich komme aus der Nähe von Kattowitz. Wenn ihr hier rumlaufe, treffe ich viele Freunde. Unter der Woche lebt jeder sein eigenes Leben, viele arbeiten. Wenn du ein normales Leben haben willst, brauchst du einen Zweitjob.

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Wo trefft ihr euch dann?
In Kattowitz sieht man sich nur auf Partys. Wir gehen nicht aus zum Essen

Dann bis du öfter auf Festivals wie diesem?
Mit 17 war ich das erste Mal auf einem Festival. Hier war ich auch schon oft. Früher hieß es nur Nowa Muzyka und war nur einen Tag lang. In den elf Jahren hat es sich dann verändert. Zuerst war es im Wald, dann ein Mal in Cieszyn an der tschechischen Grenze, dann an einem Park beim Flughafen.

Wann hat es sich am meisten verändert?
Das war so vor vier Jahren, damals waren echt große Akts wie Scuba da. Das Gelände wurde komplett renoviert, danach hat es angefangen, kommerziell zu werden.

Für welche Musik interessierst du dich?
Auf dem Festival will ich AtomTM & Tobias sowie Battles und Lorenzo Senni sehen. Ich habe früher aber viel Garage-Bands gehört, doch dann habe ich mit deutschem Krautrock angefangen und elektronische Klassiker wie Klaus Schulze entdeckt.

Wie ist dein Verhältnis zu Deutschland?
Ich war schon öfters dort. Meine Oma hat, bis sie 16 Jahre alt war, nur deutsch gesprochen und meine Tante lebt in Düsseldorf. Wir sind cool mit Deutschen. In Schlesien haben viele Angehörige in Deutschland, die in den früher 90ern zum Arbeiten ausgewandert sind. Die Leute, die näher an Russland leben, sympathisieren dagegen eher mit dem Osten.

Magdalena, 33, aus Polen wohnt in Berlin

Bist du hier aus der Gegend?
Ich bin extra für das Festival nach Polen gekommen. Freunde von mir, die ich einfach anrufen kann und dann eine Karte bekomme, organisieren das.

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Was magst du am Line-up?
Das Festival ist interessant für mich, weil ich das meiste nicht kenne. Meine Freunde sagen mir, was man hören kann. Maria Peszek, eine polnische Künstlerin, zum Beispiel war sehr gut – das ist elektronischer Rock mit starken politischen Texten.

Über was singt sie?
Über die Lage in Polen, über die katholische Mehrheit, die ein bisschen gegen homo ist. Maria hat gute Wortspiele, die sie reinbringt. Es gibt Leute, die gegen sie sind. Doch das bekomme ich nicht so richtig mit, da ich in Berlin lebe. Ich höre es nur von Freunden.

Bekommst du in Deutschland sonst so mit, was in Polen passiert?
Ein bisschen.

Błazej, 33, aus Kattowitz

Was passiert in Polen gerade politisch?
Für Leute wie uns, wird es immer schlechter. Es passiert das Gleiche wie in den 1930ern. Die Mehrheit im polnischen Parlament ist sehr rechts, nationalistisch und katholisch. Die Kirche ist mächtig. Unsere Regierung möchte keine Flüchtlinge. Rassismus ist alltäglich in Polen.

Gegen wen richtet sich das, Nicht-Polen?
Gegen Flüchtlinge, andere Hautfarben.

Wie sieht es mit Deutschen aus?
Normale polnische Leute—wir hier sind keine und auch die Leute auf dem Festival sind anders—mögen Deutsche wegen des Zweiten Weltkrieges nicht. Sie haben aber auch ein Problem mit den Russen. Polen hält sich für Jesus Christus.

Wo wir bei Christus sind: Ist die Kirche wirklich noch so wichtig?
Für unsere Freunde nicht, doch ich wohne in der Nähe der größten Kirche der Stadt und ich sehe richtig viele junge Leute dort. Manche glauben sogar, du kannst kein „richtiger" Pole sein, wenn du nicht katholisch bist.

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Woher kommt das?
Sie suchen nach Identifikation. Auch Geflüchtete suchen Halt in Religion. Doch in Polen hatte die Kirche schon immer einen starken Einfluss, auch zu Zeiten der UdSSR.

Aber ihr habt noch eure Rückzugsräume?
Ja, wie hier auf dem Festival. Doch die Frage ist, wie lange noch. Ich denke, ich werde in ein paar Jahren auswandern nach Berlin, in die Niederlande, Norwegen, Israel oder in die USA.

Henry, 26, kam extra aus England und nahm seinen Freund Charly, 27, (nicht im Bild) mit

Was machst ihr hier in Polen?
Henry: Ich bin mit meinem Freund aus London hergekommen. Ich wollte einfach eine andere Erfahrung haben. Und es ist günstiger hier.
Charly: Es ist ein interessanter Ort, und es ist nicht voll mit trashy Leuten. Ganz Europa ist voll mit Briten, vor allem Berlin. Hier ist speziell. Viele wissen noch nichts davon. Es ist schön, England mal zu verlassen und nur 500 Zloty (umgerechnet 115 Euro) auszugeben. Wir kamen mit den schlimmsten Vorstellungen hier her, aber es ist so anders, so lebendig.

Viele verdienen hier trotzdem nur den Mindestlohn von rund 400 Euro im Monat.
Charly: Das macht mich schon traurig. Es ist hart, aber für uns ist es zu Hause auch hart.

Wie gefällt es euch?
Henry: Verschiedene Sachen passieren. Die Leute sind sehr offen und reden gerne mit dir. Sie sind echt nett. In London würde niemand mit dir reden.

La MiniTK del Miedo aus Kolumbien, Carbon Contient-Stage

T'ien Lai, Carbon Contient-Stage

Kassem Mosse, Redbull-Stage

Zwischendurch auch mal in die Stadt schauen

Kamasi Washington

Sonntagmorgen

Im nächsten Jahr soll es ein wenig früher beginnen, angekündigt wurde die 2017er Ausgabe zum 6. bis 9. Juli

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