Ein alter Mann mit Speer, Gesichts- und Brusttattoos und Kopfschmuck steht vor einer Wand mit mehreren Tierschädeln; er gehört zum Volk der Konyak, die früher noch Kopfjagd betrieben haben und sich dafür tätowieren ließen
Heute sind nur noch Tierschädel die Jagdtrophäen der Konyak | Foto: Tania Chatterjee
Menschen

Fotos: Die letzten indischen Kopfjäger und ihre traditionellen Tattoos

Früher bekamen die Krieger des Konyak-Volks Tätowierungen für die abgetrennten Köpfe ihrer Feinde. Viele junge Konyak wollen mit dieser Kunst nichts mehr zu tun haben.

Wenn Kanato Chophy über seine ersten Erinnerungen an Tattoos spricht, kommt dabei auch das Thema Gewalt auf. Der Anthropologe erzählt dann von indischen Soldaten, die gezielt gegen junge, tätowierte Männer vorgegangen seien und sie mitten in der Nacht aus ihren Häusern geschleift hätten. Die Stille dieser Nächte sei dann jäh vom Lärm der Gewehrschüsse und den Schreien hilfloser Mütter unterbrochen worden.

Anzeige

"Die typische Annahme der indischen Behörden war, dass jede Person mit Tattoos ein Rebell sei", sagt Chophy, der heute an der Utkal University zum Thema Nordostindien forscht. "Dabei war egal, ob es sich um traditionelle oder moderne Tätowierungen handelte. Selbst die Leute, die Lederjacken von Rockbands wie Led Zeppelin oder Black Sabbath trugen, wurden festgenommen."

Der Nordosten Indiens umfasst acht Bundesstaaten und hat eine Geschichte, die geprägt ist von gewalttätigen Konflikten zwischen Militär und Rebellen, die sich nicht der Zentralregierung unterwerfen wollten. In Nagaland, einem dieser Bundesstaaten, leben vor allem Menschen, die dem Volk der Naga angehören. Dieses Volk ist wiederum in zahlreiche ethnische Untergruppen aufgeteilt, von denen einige auch im Nachbarstaat Myanmar zu finden sind. Eine dieser Untergruppen sind die Konyak, die oft als die letzten Kopfjäger aus der Region angesehen werden. 

Anzeige
Ein alter Mann mit Tätowierungen im Gesicht und auf der Brust sitzt vor einer Holzwand und trägt eine traditionelle Kopfbedeckung

Die Konyak waren früher Kopfjäger, und ihre Tattoos beziehen sich oft auf diese inzwischen verbotene Praxis | Foto: TANIA CHATTERJEE

Die Praxis der Kopfjagd und die Konyak gehen quasi Hand in Hand. Die Mitglieder des Volks waren schon immer als aggressive Krieger gefürchtet und berüchtigt dafür, ihre Feinde zu köpfen und deren Schädel als Trophäen in einem speziell dafür gefertigten Korb mit nach Hause zu bringen. Die Totenköpfe wurden dann stolz im Gemeindesaal oder in den eigenen vier Wänden ausgestellt.

Die Konyak sind aber auch berühmt für ihre Tattoos.

"Die Tätowierungen der Konyak kennzeichnen verschiedene Abschnitte ihres Lebens", sagt Chophy, der selbst der Sümi-Naga-Volksgruppe angehört. "Sie stehen für diverse Stufen der Männlichkeit und drücken ihre animistische Beziehung zur Natur sowie zur Kopfjagd aus." 

In ihrem Buch The Last of the Tattooed Headhunters schreibt Phejin Konyak, die Urenkelin eines bekannten tätowierten Kopfjägers, dass zwischen der Kopfjagd und dem Ritual des Tätowierens eine historische Verbindung bestehe. Nach jeder Schlacht habe man die mit den Schädeltrophäen zurückkehrenden Krieger mit auberginefarbenen Diamanten geschmückt und rautenartige Muster auf ihre Körper tätowiert. Diese Tattoos seien mit Tinte aus dem Zedernbaum gestochen worden, als Nadel habe man Palmstacheln benutzt. Konyak schreibt zudem, dass es bei den Kriegern als unmännlich gegolten habe, wenn man während des schmerzhaften Tätowierens auch nur einen Mucks von sich gab.  

Anzeige
Ein alter Angehöriger des Konyak-Stammes steht oberkörperfrei vor einer Wand mit Tierschädeln, er trägt traditionellen Schmuck und eine traditionelle Kopfbedeckung

Ein typischer Konyak-Krieger | Foto: TANIA CHATTERJEE

Gesichtstattoos seien dabei vor allem den Kriegern vorbehalten gewesen, die mit menschlichen Schädeln von ihren Eroberungszügen zurückkehrten. Nur noch wenige dieser einstigen Kopfjäger leben noch. "Sie sind die letzten Hüter dieser Tradition. Wenn sie sterben, wird auch die Tradition für immer fort sein", sagte Phejin Konyak gegenüber CNN.

Die indische Regierung hat die Kopfjagd 1960 offiziell verboten. Zu dieser Zeit ist auch ein Großteil der Naga aus den acht nordostindischen Bundesstaaten zum Christentum konvertiert. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts versuchten Missionare der baptistischen Kirche Nordamerikas mithilfe der britischen Kolonialisten, den christlichen Glauben in Nordostindien zu verbreiten. Die Kolonialisten und Missionare verachteten die Kopfjagd und sahen die Konyak deswegen als "Heiden" an. Dementsprechend untersagten sie die Praxis im Jahr 1935. Und auch wenn durch die Ankunft von westlichen Religionen in der Gegend mehr Leute das Lesen und Schreiben lernten, unterbanden die Missionare in ihrem "Zivilisierungs"-Eifer zahlreiche altertümliche Traditionen – inklusive dem Tätowieren. 

Anzeige
Ein alter Mann mit Gesichtstattoos, traditioneller Kopfbedeckung und einem Speer blickt in die Kamera, im Hintergrund feiern andere Menschen

Einer der letzten verbliebenen Konyak-Krieger mit Gesichtstätowierungen | Foto: TANIA CHATTERJEE

"Im Christentum legt man Wert darauf, die andere Wange hinzuhalten und nicht auf Rache aus zu sein", sagte Chophy, die selbst Christin ist. "Wir tragen keine blutigen Kämpfe aus, weil wir daran glauben, dass Christus unsere Sünden vergeben hat. Den Konyak wurde eine völlig neue Denkweise aufgezeigt, was sehr stark dazu beigetragen hat, dass sie die Kopfjagd und das Tätowieren ad acta legten."

Tania Chatterjee, eine Fotografin aus Neu-Delhi, reiste im April nach Nagaland, um das jährliche Aoling-Festival zu dokumentieren. Dort feiern die Konyak das Ende des Winters. Die Fotografin sieht die Sache mit der aussterbenden Tattoo-Tradition ähnlich wie Chophy. 

Mehrere Angehörige des Konyak-Volkes stehen in traditionellen, roten Outfits vor einem Baum im Urwald

Beim Aoling-Festival zelebrieren die Konyak die Ankunft des Frühlings und beten für eine gute Ernte | Foto: TANIA CHATTERJEE

"Als ich die jungen Konyak aus einem Dorf namens Longwa kennenlernte, fiel mir auf, dass niemand von ihnen Tattoos hatte", sagt Chatterjee. "Fast alle waren zum Christentum konvertiert. Und in fast jedem Dorf gab es eine Kirche." 

So wie es Chatterjee sieht, hat diese "Modernisierung" stark dazu beigetragen, dass die Tattoo-Tradition der Konyak immer mehr verschwindet. "Ich habe die Enkelin des Dorfoberhauptes kennengelernt, sie macht in Kohima, der Hauptstadt von Nagaland, gerade eine Ausbildung zur Krankenpflegerin", sagt die Fotografin. Die meisten jungen Menschen, mit denen Chatterjee gesprochen hat, hätten Angst davor, von den Leuten in der Stadt diskriminiert zu werden, wenn sie tätowiert wären. Und in die Stadt zu ziehen, sei für diese jungen Menschen die einzige Chance, eine gute Bildung zu erhalten und Geld zu verdienen. Das Ganze ist quasi das Ticket raus aus den Dörfern mit ihren löchrigen Straßen und fehlenden Annehmlichkeiten. 

Anzeige
Zahlreiche Frauen des Konyak-Volkes stehen im Kreis und feiern, zwischen ihnen steht ein Krieger mit Speer und rotem Outfit

So sieht es beim Aoling-Festival aus | Foto: TANIA CHATTERJEE

Obwohl Nagaland und der Rest von Nordostindien durch die Lage an der Grenze geografisch wichtige Schlüsselpunkte sind, ist die Gegend nur schlecht angebunden, und die dortige Infrastruktur hat ihre besten Tage schon längst hinter sich.

Als Chatterjee in den abgelegenen Distrikt Mon an der Grenze zwischen Nagaland und Myanmar reiste, stieß sie dort auf die letzten Überbleibsel der Tattoo- und Kopfjagd-Tradition. Sie konnte die traditionellen Konyak-Tätowierungen auf der Haut der Dorfältesten mit eigenen Augen sehen und die Motive bewundern, die sich als Bäume, Fische oder sich kreuzende Flüsse auf die umliegende Natur beziehen.

"Als ich die Dorfältesten in ihren Gemeindesälen umgeben von den Trophäen der Vergangenheit fotografierte, wurde mir plötzlich klar, dass ich so eine Chance, eine aussterbende Kultur zu dokumentieren, wahrscheinlich nie wieder bekomme", sagt Chatterjee. "Die meisten von ihnen waren schon so alt, das sie fast keine Zähne mehr hatten und sich kaum noch mit meinem Dolmetscher unterhalten konnten." 

Ein alter Mann mit grauen Haaren und Tätowierungen im Gesicht und auf der Brust sitzt vor seiner Hütte und blickt in die Kamera

In gut zehn Jahren wird es vielleicht keine Konyak mit traditionellen Tattoos mehr geben | Foto: TANIA CHATTERJEE

Moba Langfhoang, ein 35-jähriger Konyak, ist im öffentlichen Dienst in Nagaland beschäftigt. Beim Thema Tattoos bekommt er im Gegensatz zu manch anderen Angehörigen seines Volks keine nostalgischen Gefühle. "Meine Oma ist am Kinn und am Hals tätowiert, die Tattoos kennzeichnen verschiedene Abschnitte ihres Lebens als Frau. Aber sie verblassen immer mehr", sagt Langfhoang. Seine Großeltern gehören zu den wenigen verbliebenen Konyak, die noch traditionelle Tattoos haben.

Anzeige

"Wir haben keinen Bezug mehr dazu, wie wichtig diese Tattoos für unsere Ältesten waren. Denn wir sind in einem Umfeld aufgewachsen, in dem es Tätowierungen und die Kopfjagd nicht mehr gegeben hat", sagt Langfhoang. "Diese Tattoos erzählten von deren Leben und Kriegen, nicht von unseren. Es ist sinnlos, sich daran festzuklammern, nur um sich an irgendetwas festzuklammern."  

Ein alter Mann mit Gesichtstattoo und traditionellem Schmuck blickt in die Ferne

"Diese Menschen sind die letzten Hüter dieser Tradition. Wenn sie sterben, wir auch die Tradition für immer fort sein" | Foto: TANIA CHATTERJEE

Mo Naga, ein 36 Jahre alter Tätowierer aus dem indischen Bundesstaat Manipur, hegt hingegen den ambitionierten Traum, die Tradition der Konyak-Tattoos wieder aufleben zu lassen. "Es ist egal, dass die Kopfjagd inzwischen verboten ist", sagt er gegenüber VICE. "Unsere Tätowierungen sind aus so viel mehr entstanden. Nur weil ein weißer Mann uns sagt, dass die Kopfjagd und alles Dazugehörige jetzt nicht mehr erlaubt sind, geht unsere Tradition doch nicht einfach so verloren. Diese Tattoos drücken aus, wie wir leben. Sie bilden einen Teil unserer Sprache."

Eine alte Frau tätowiert eine junge Frau mit einem Bambusstock und Palmnadeln, zwei Männer sehen ihr dabei zu

Mo Naga lernt von einer Dorfältesten, wie man mithilfe der traditionellen Technik ein Tattoo sticht | Foto bereitgestellt von Mo Naga

Mo Naga, der dem Volk der Khoibu angehört, hat vor Kurzem einem anderen Khoibu ein Tattoo gestochen, das die Beziehung ihres Dorfes mit einer speziellen lokalen Wels-Art einfängt. Und ein anderes seiner Werke soll für die symbiotische Bindung zwischen Pflanzen, Tieren und den indigenen Volksstämmen stehen und dabei auch den animistischen Glauben der Konyak berücksichtigen.

Ein tätowierter Bauchnabel und ein tätowierter Handrücken

So sieht ein frisches traditionelles Konyak-Tattoo aus | Foto bereitgestellt von Mo Naga

"Wir sind nicht geübt darin, solche Dinge zu sehen", sagt Mo Naga. "Denn unser Verstand wurde traurigerweise nur darauf konditioniert, die englische Sprache zu lesen. In meinen Arbeiten geht es auch um Dekolonisation. Wir müssen unsere Kultur durch die Augen unserer Vorfahren sehen und nicht durch die Linse des Christentums." 

Anzeige

Laut dem Anthropologen Chophy sollte jeder und jede Konyak selbst entscheiden, wie er oder sie zu den traditionellen Tattoos steht. "Manche von ihnen wollen in die Stadt ziehen und nichts mehr damit zu tun haben", sagt er, "während andere die Tradition bewahren wollen. Wir haben nicht das Recht, über ihre Wahl zu urteilen und sie darin irgendwie zu beeinflussen."

Mo Naga hat es sich derweilen zum Ziel gesetzt, die Welt für die Konyak-Tätowierungen zu sensibilisieren. Er plant, in seiner Heimatstadt ein Tattoo-Zentrum zu errichten, in dem er über die Tattoo-Kultur aufklären und sie damit entmystifizieren und erhalten will. 

Ein jüngerer Mann mit türkisfarbenem Shirt und Umhängetasche sitzt zwischen drei älteren tätowierten Männern auf der Treppe eines Hütteneingangs

Mo Naga mit mehreren tätowierten Dorfältesten | Foto bereitgestellt von Mo Naga

"Mein Wunsch ist es, dass die Konyak-Tattoos in die UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen werden", sagt der Tätowierer. "Denn sie enthalten genug Geschichten und Lektionen, um ein ganzes Leben zu füllen."

Folge VICE auf Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.