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Missbrauch

Wenn du vom Tod einer Freundin durch die Medien erfährst

Stell dir vor, eine gute Freundin wird vergewaltigt, umgebracht und alle Medien berichten detailliert darüber, wie schrecklich ihre letzten Minuten gewesen sind.

Titelfoto: opposition24.de | Flickr | CC 2.0

Martin* wirkt angespannt, wenn er Johannas* Namen ausspricht. Er spricht gerne über sie, ganz klar. Aber es stört ihn, dass sie immer in Verbindung mit etwas stehen wird, das nichts über ihre Person aussagt. Deshalb hat er begonnen, ihren Namen zu vermeiden oder nur dann zu erwähnen, wenn er weiß, dass er in einem Rahmen über sie sprechen kann, in dem ihr Schicksal danach nicht ausführlich besprochen wird. Heute macht er eine Ausnahme.

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Martin und Johanna lernen sich im Alter von 10 Jahren kennen und besuchen dieselbe Klasse. Nach der Matura trennen sich ihre Wege, beide verlassen die Stadt und verlieren den Kontakt. Nachdem das erste Studienjahr fast vorbei ist, hat Martin ein Posting in seiner Facebook-Timeline: Johanna ist tot.

"Ich habe Zeit gebraucht, um zu verstehen, was passiert ist."

"Heute schäme ich mich fast, wenn ich mich daran zurück erinnere, wie ich den Post anfangs für einen schlechten Scherz gehalten habe. Ich habe auch gleich das Mädchen angerufen, das den Status verfasst hat, und gefragt, ob sie uns verarschen will."

Den restlichen Tag habe er nur noch geweint. Zu diesem Zeitpunkt wusste er nur, durch ein kurzes Telefonat, dass sie ermordet wurde. Wie es passiert war, wusste er nicht.

"Damals, kurz nachdem ich von Johannas Tod erfahren hatte, war es für mich OK, erstmal nicht produktiv zu sein oder meine sozialen Kontakte zu pflegen. Ich glaube, ich habe Zeit gebraucht, um zu verstehen, was passiert ist."

Martin begann alles um sich herum in Frage zu stellen. Wieso etwas studieren, wenn im nächsten Moment alles umsonst gewesen sein kann? Wieso verlieben, wenn dein Gegenüber jederzeit verunglücken kann? "Mir wurde erst da so richtig bewusst, dass aus dem nichts einfach alles passieren kann."


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Weitere Tage vergingen und obwohl Martin nicht gut mit seiner damaligen Klasse auskam, versuchte er mit ihnen in Kontakt zu treten. Er schlug vor, in Gedanken an Johanna eine Spendenaktion zu starten, die sich für Familienangehörige von Mordopfern einsetzte. Dass sich der Rest der Klasse eher wenig begeistert von der Idee zeigte, überraschte ihn dann doch. "Danach war mir klar, dass man etwas Positives daraus ziehen muss – egal, wie schwer es ist. Nicht nur für uns, Johannas Freunde, sondern auch für ihre Familie. Ich meine, wer rechnet schon damit, dass sein eigenes Kind einfach stirbt."

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Irgendwann hatte Martin schließlich das Gefühl, er könne bald wieder aufatmen und in seinen geregelten Alltag zurückkehren. Das war bevor die Medien auf Johannas Fall aufmerksam wurden.

"Ab da wurde alles nur noch schlimmer. Ich wusste von Anfang an, dass keine guten Zeitungen über diesen Mord berichten würden – er war viel zu klein und unbedeutend für die Welt. Aber es stürzten sich alle möglichen Boulevardzeitungen auf Johannas Tod. Ich hätte kotzen können."

In dem Glauben, dass Johanna "lediglich" ermordet wurde, las er unbewusst die erste Schlagzeile. Das war das erste Mal, dass er das Wort "Vergewaltigung" in Verbindung mit ihrem Namen sah.

"Als ich die Worte gelesen habe, habe ich aufgehört zu atmen. Ich weiß nicht, wieso. Mir blieb der Atem weg und das Einzige, was ich sehen konnte, war Johanna, die vergewaltigt wurde. Das wiederholte sich jedes Mal, wenn mir eine weitere Schlagzeile unter die Augen kam."

Egal, wohin er ging und was er auch tat, überall war Johanna. Überall war beschrieben, wie sie qualvoll missbraucht wurde und dann starb.

Martin versuchte, der Berichterstattung aus dem Weg zu gehen. Er wollte nicht mehr über Johannas Tod erfahren. Aber die Medien machten es ihm unmöglich. Egal, wohin er ging und was er auch tat, überall war Johanna. Überall war beschrieben, wie sie qualvoll missbraucht wurde und dann starb. Dieselbe Johanna, die jahrelang neben Martin im Unterricht saß.

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"Das Ganze fand seinen Höhepunkt, als ich von Journalisten gefragt wurde, ob ich ihnen ein Interview geben würde. In erster Linie wollten sie mit mir über den Täter und die Tat selbst sprechen – als hätte ich irgendeine Ahnung davon."

"Ich will, dass alle endlich mit der Sache abschließen können. Für mich ist es unwichtig, wie es dem Täter geht und wie sein Leben verläuft. Vielmehr hatte ich mir gewünscht, nie erfahren zu müssen, dass jemand, den ich gern hatte, den schlimmsten Tod durchlebt hat. Ich weiß, das klingt egoistisch, aber es gibt nichts Schrecklicheres als zu wissen, dass eine Freundin die letzten Minuten oder Stunden ihres Lebens misshandelt wurde. Dieser Gedanke bringt mich um."

Wenn Martin über Johanna spricht, merkt man schnell, dass es ihm mehr darum geht, darüber zu sprechen, wie sie als Mensch war, als über sie als Opfer einer Gewalttat zu sprechen. Für ihn sind Johanna und ihr Mord zwei verschiedene Dinge, die wenig miteinander zu tun haben: Johanna, ein liebevoller und religiöser Mensch, der immer ein offenes Ohr für ihr Umfeld und beschlossen hatte, keinen Sex vor der Ehe zu haben. Auf der anderen Seite der Mord, bei dem sie vergewaltigt wurde.

"Ich wollte nie, dass Johanna uns so in Erinnerung bleibt, wie sie es jetzt tut. Wir erinnern uns an ihren Tod, an die Misshandlung und verspüren Mitleid. Dabei sollten wir uns an die Johanna erinnern, die wir jahrelang kannten. Aber die Medien haben uns ein Bild gemacht, das wir nicht wieder vergessen können. Also denken wir nicht mehr an das Mädchen, das Johanna eigentlich ihr gesamtes Leben war."

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

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