Unschuld, Sehnsucht, Neugierde—Jean-Michel Jarre erklärt seinen Zugang zu Kreativität

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Thump

Unschuld, Sehnsucht, Neugierde—Jean-Michel Jarre erklärt seinen Zugang zu Kreativität

„Neugierde ist ein großer Bestandteil meiner DNA—und nicht nur meiner, auch der all der Musiker, mit denen ich für das Album kollaboriert habe. Massive Attack, Air, Moby oder auch Laurie Anderson, sie alle eint diese Gier nach Neuem."

Er mag mittlerweile 67 Jahre alt sein, aber davon dass Jean-Michel Jarre noch lange nicht müde ist, zeugt nicht nur sein neues Album „ELECTRONICA 1: The Time Machine", für das er mit so unterschiedlichen Musikern wie Boys Noize, M83, Air, Vince Clarke, Little Boots, Fuck Buttons, Moby, Gesaffelstein, Pete Townshend, Tangerine Dream, Laurie Anderson, Armin van Burren, Massive Attack, John Carpenter und Lang Lang zusammengearbeitet hat.

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Für uns traf Thomas Venker den französischen Musiker, Komponisten und Produzenten, dessen Album Oxygène mit mehr als 18 Millionen verkauften Einheiten zu den Klassikern der elektronischen Musik gehört, in Berlin zu einem Gespräch über die Bedeutung von Neugierde im Leben eines Künstlers—und natürlich sprachen die beiden über sein neues Album ELECTRONICA 1: The Time Machine.

THUMP: Mr. Jarre, die Liste ihrer Kollaborationspartner für ihr neues Album ist sehr lang und nicht ganz einfach zu deuten. Welchen Einfluss hatte Neugierde darauf? Wie kann man sich als Künstler seine Neugierde bewahren?
Jean-Michel Jarre: Es ist eine Geisteshaltung, die man zunächst einmal erwerben muss. Man kann per Erziehung neugierig werden, oder man erarbeitet sich das selbst. Wie interessant, dass Sie das Gespräch auf diese Art beginnen. Neugierde ist ein großer Bestandteil meiner DNA—und nicht nur meiner, auch der all der Musiker, mit denen ich für das Album kooperiert habe. Massive Attack, Air, Moby oder auch Laurie Anderson, sie alle eint diese Gier nach Neuem.

All diese Musiker, mit denen Sie zusammengearbeitet haben, gelten als etabliert—was dabei mitschwingt: Sie haben ihre innovativen Tage hinter sich und reproduzieren heute Ideen von früher. Zumindest kann man das so sehen. Aber Sie, Sie haben im Studio die enthusiastischen Kinder gesehen, die noch immer in ihnen stecken?
Heutzutage geht es in der Musik immer darum, wer den Geschmack der Woche trifft. Als Künstler kannst du einmal den Zeitgeist treffen, vielleicht auch zweimal oder dreimal, aber es sollte generell nicht dein künstlerisches Ziel sein. Man hält sich irgendwo im Zwischenraum auf—die Neugierde, über die wir sprechen, sie schafft ein Paradoxum und auf diesem Weg die wiedererkennbare Identität. Ich durfte Federico Fellini kurz vor seinem Tod treffen. Er erzählte mir damals etwas, das mich schwer beeindruckt hat: „Mein ganzes Leben dachte ich immer, dass ich unterschiedliche Filme drehen würde, aber jetzt, am Ende, realisiere ich, dass ich immer dasselbe produziert habe." Er lieferte damit die perfekte Definition eines Künstlers: Man produziert verschiedene Deklarationen derselben Obsession. Wenn wir etwas zu sagen haben, dann eine Sache—und wir investieren all unsere Zeit, um mit Variationen dieser aufzuwarten. Schauen Sie sich die Arbeiten der Beatles, von Stanley Kubrick, Pablo Picasso oder Johann Sebastian Bach an, sie alle erzählen uns genau eine Sache. Das nennt man Stil. Die Neugierde, sie ist unser Mittel, um eine Stimmigkeit im Werk zu erreichen. Mit Erfolg oder Hype hat das nichts zu tun. Ein wahrer Künstler ist nicht an Hypes gebunden, sie beschäftigen ihn nicht. Er mag in einem Moment gehypt werden, aber das spielt keine Rolle.

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Lassen Sie uns auf die Liste der Kollaborationspartner zurück kommen: Einige davon kann ich nachvollziehen, andere weniger. Eint all die Musiker wirklich, dass die Privatperson Jean-Michel Jarre sie hört? Oder ging es bei der Auswahl doch eher um spezielle Eigenschaften dieser Leute?
Mir ging es darum, Leute zu versammeln, die ich als Teil derselben Familie, desselben Stammes empfinde. Ich verstehe, was Sie sagen: Heutzutage ist es im Showbusiness normal, dass man viele Musiker auf einem Album aus Namedroppig-Gründen versammelt. Es werden Soundfiles verschickt, die Musiker selbst sprechen nicht miteinander, alles wird von Managern arrangiert. So sind wir nicht vorgegangen, das Gegenteil war der Fall: Jede Begegnung fand physisch zwischen mir und den anderen statt. Ich bin sehr viel gereist für das Album, was mich sehr gefreut hat, denn es war ja meine Idee, mich auf die künstlerische Umgebung des jeweils anderen einzulassen. Vince Clarke habe ich zum Beispiel bei sich in Brooklyn getroffen, und für Edgar Froese von Tangerine Dream bin ich von Paris mit dem Zug nach Jena und dann noch mit dem Auto ins Umland gefahren. Das alles war Teil meines Dogmas—es ging darum, etwas anderes zu kreieren, und das ging nur auf einem authentischen Weg. Es ist nicht mehr normal heutzutage, dass man sich persönlich sieht, wir sind über das Internet verbunden. Das gilt oft auch für Musiker, es ist mittlerweile das höchste aller Gefühle, dass man die Bühne miteinander teilt, aber wir wollten mehr: Wir wollten die Musik von Beginn an zusammen produzieren.

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Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, ich mag die Musik von all diesen Leuten, sonst hätte ich nicht mit ihnen zusammengearbeitet.

Sie sprachen es an: Nicht die Gäste sind zu Ihnen gekommen, sondern Sie haben sich für jedes Stück auf Reisen begeben. Hatten Sie das Gefühl, dass nur dann etwas Neues herauskommen könnte, wenn Sie sich selbst derart herausfordern?
Es war in der Tat eine sehr spannende Erfahrung, meine Gewohnheiten und Rituale zu hinterfragen. Oft sind diese so eingefahren, dass man sie nur dann aufzubrechen vermag, wenn man die Welt wechselt. Nehmen wir Moby als Beispiel. Als ich mit ihm dann in seinem Studio saß, spielte er doch wirklich als erstes einen D-Moll-Akkord aus 3 Noten auf seinem Keyboard, also etwas, was auch ein 3jähriges Kind machen könnte. Das nenne ich Stil. Er agierte sehr pointiert, Jackson Pollock-artig, produzierte erst einen Sound, dann noch einen, und danach Takt um Takt. Ich arbeite normalerweise absolut gegensätzlich und starte von einer übergreifenden Vision her und tauche dann erst in die Details ein.

Sie haben also seine mikroperspektivische Arbeitsweise und ihre makroperspektivische Arbeitsweise fusioniert?
Ich will ihm nicht absprechen, dass auch er eine größere Vision für das Stück hatte … Ein anderes Beispiel ist meine Zusammenarbeit mit Laurie Anderson. Ich kenne sie schon sehr lange, für mich gehört sie zu den einflussreichsten New Yorker Künstlerinnen, nicht nur als Musikerin, auch als Videokünstlerin und Bildende Künstlerin, sie hat diese sehr eigene Beziehung zur Technologie, was wiederum zu einer ganz eigenen Herangehensweise an Sounds führt. Ich hatte für sie ganz konkret einen Liebessong geschrieben, in dem es um ein Objekt ging. Wir neigen heute dazu, unser Mobiltelefon mehr zu berühren als unsere Partner, wir haben ein sinnliches Verhältnis zu ihnen—natürlich sollte Laurie die Rolle des Mobiltelefons einnehmen. Ich habe den Text in einer Nacht geschrieben und eigentlich war der Plan, als wir dann im Studio in Los Angeles zusammentrafen, ihre Stimme zu verfremden, doch das surreale Stück wollte das nicht und so findet sich nun lediglich ein kleiner Effekt auf ihrer Stimme. Was ich sagen will: Die Situationen spielen eine große Rolle bei den Kooperationen.

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Ich muss sagen, dass „Rely on me", das Stück mit Laurie Anderson, wirklich sehr schön passt nach „Zero Gravity", der Kooperation mit Edgar Froese von Tangerine Dream.
Sie meinen den Kontrast, die Verlagerung?

Die beiden Stücke zeugen von der magischen Erfahrung, die eine musikalische Reise bedeuten kann.
Vielen Dank, es bedeutet mir viel, dass Sie das sagen. Ich beschäftige mich in der Tat lange mit der Reihenfolge der Stücke. Denn sind wir mal ehrlich: Moby, Gesaffelstein, The Who, Laurie Anderson, Armin van Buuren, Massive Attack … natürlich könnte man sagen: Was zum Teufel soll das? Aber jedes einzelne Stück ist Teil der Reise. Das ist hier doch gerade auch nichts anderes: Während wir sprechen, denken Sie über Ihre nächste Frage nach—und das nicht autark, das Licht, das ins Zimmer fällt spielt eine Rolle, der blaue Himmel draußen, die Blumen neben uns, der Kaffeeduft … genau diese Vielfalt mag ich an diesem Projekt, viele Charaktere treffen aufeinander. Das passt zu unserer Zeit: die Leute haben eine Gier zum Zappen entwickelt, und zugleich träumen sie alle von einem bedeutungsvollen Leben. Warum sonst wäre Facebook so erfolgreich? Die Leute wollen, dass ihre Leben etwas bedeuten.

Für sie repräsentiert also die Unterschiedlichkeit der Stücke auf „ELECTRONICA 1: The Time Machine" die Zapping-Kultur? Wobei ich anmerken möchte, dass ich letztlich überrascht war, dass die Stücke gar nicht so divergent ausgefallen sind. Lediglich die Zusammenarbeiten mit Little Boots—mit ihrer sehr speziellen Stimme—sowie Pete Townshend und Armin van Buuren fallen etwas aus dem Soundflow heraus. Was ich damit sage: Ich habe das Gefühl, dass sich die meisten MusikerInnen Ihnen angenähert haben.
Nun, am Ende ist es ja vor allem mein Album. Es ist nicht das Album von van Buuren und auch nicht das von Townshend. Es hat mir viel bedeutet, dass all diese Musiker das verstanden und mir den Final Cut zugestanden haben. Mich hat es, um bei Ihren Beispielen zu bleiben, gereizt, was meine Vorstellungskraft aus der Musik von The Who und Trance produzieren würde – es ging mir natürlich weder um pure Rockmusik noch um elektronischen Festivalsound. Ich schätze an Trance die dem Sound innewohnende Freude, das hat etwas von Neoklassischer Musik, diesen Aspekt wollte ich in der Zusammenarbeit mit Armin verfolgen. Pete Townshend war ja der erste Musiker, der Sequencer und Synthesizer in Rockmusik integriert hat—für sein Terry Riley Tribute „Baba O'Riley", und er war auch der erste, der eine Rockoper kreiert hat—ich habe eine große Faszination für deutsche Oper, für Wagner. Was ich sagen möchte: Mir ging es darum, meine Fantasie von The Who zu erschaffen, eine kleine elektronische Rock-Oper. Sie kennen bislang nur ein Stück, das ich mit Pete produziert habe, die beiden anderen werden auf dem zweiten Album zu finden sein. Sie wären in diesem Kontext zu komplex gewesen.

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Lassen Sie uns noch mal konkret zum Aspekt der Neugierde zurückkehren. Ihr Vater war ja auch Komponist und hat unter anderem die Soundtracks zu „Lawrence von Arabien" und „Doktor Schiwago" geschrieben. Was konnten Sie von ihm künstlerisch lernen?
Ich hätte sehr gerne von ihm etwas gelernt, aber meine Eltern trennten sich, als ich fünf Jahre alt war und er lebte danach in Amerika und ich in Europa. Ich hatte kaum eine Beziehung zu meinem Vater. Es ist besser, einen offenen Konflikt mit dem eigenen Vater zu haben als gar kein Verhältnis—das ist das Schlimmste. Er ist vor fünf Jahren gestorben und ich habe lange gebraucht, das alles zu verarbeiten.

Um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe meine Neugierde aus der Frustration heraus entwickelt, da ich eben nicht die Axiome von meinem Vater gelehrt bekommen habe. Ich musste selbst erlernen, wie man als Künstler überleben kann. Ich habe darüber so noch nie nachgedacht: Aber es ist wohl so, dass die Neugierde auf diesem Weg Teil meines Lebens wurde.

Wo wir gerade von prägenden Momenten sprechen. Stimmt es eigentlich, dass Chet Baker Ihnen als Kind einmal ein Geburtstagslied gesungen hat?
Meine Mutter war eine wichtige Protagonistin der französischen Widerstandsbewegung während des Zweiten Weltkriegs. Sie wurde dreimal von den Nazis verhaftet und sie konnte dreimal entkommen. In dieser Zeit hat sie sich mit einer Frau angefreundet, die im Paris der Nachkriegszeit den ersten Jazz-Club der Stadt gegründet hat: das Le Chat Qui Pêche. Wenn meine Mutter sie besuchte, ging ich immer mit in die Bar und hörte den Musikern zu, freilich ohne zu wissen, wer sie waren: John Coltraine, Don Cherry, Chet Baker … An meinem achten Geburtstag setzte mich der Trompeter auf das Klavier und spielte einen Song für mich—ja, das war Chet Baker. Das war wohl meine erste physische Erfahrung von Musik. Noch heute kribbelt es in meiner Hüfte, wenn ich daran denke—eine fast schon sexuelle Klangerfahrung.

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Und ich bekomme Gänsehaut, wenn Sie davon erzählen. Es sind Momente wie diese, die einem die Welt eröffnen. Wenn jemand wie Baker oder Coltraine spielt, dann ist die Textur der Musik so eindrucksvoll, dass sie für einen jungen Menschen, der dies erleben darf, den Startpunkt einer langen Reise darstellt. In den Werken dieser Leute gibt es so viel zu entdecken, es ist kein eindimensionaler Sound.

Für mich ist Jazz wie Abstrakte Malerei, man beschäftigt sich mit Texturen und Schichten. Insofern war es ein großer Einfluss auf meine Arbeit an elektronischer Musik. Es ist eine sexuelle Art des Umgangs mit Harmonien und Texturen, die entscheidenden Dinge finden abseits von Noten und Akkorden statt.

Sie haben unter anderem bei Pierre Schaefer gelernt, in dessen Groupe de Recherches Musicales Sie 1969 gekommen sind, also mitten in der Blütezeit der Musique concrète. Heute sind Sie ein etablierter Musiker. Können Sie rückblickend den Moment ausmachen, an dem sie vom Schüler zum Musiker im eigenen Recht wurden?
Zunächst muss ich ausführen, dass Pierre Schaefer ein echter Mentor für mich war. Wir müssen festhalten, dass elektronische Musik aus zwei Ländern kommt: Frankreich und Deutschland. Pierre Schaefer und Pierre Henry, die in Frankreich die Music Concrete entwickelten, und Stockhausen, der sich in Köln mit elektronischen Sounds beschäftigte. Schaefer lehrte mich damals etwas sehr Wichtiges: „Musik besteht nicht nur aus Noten und Harmonien, sondern auch aus Sounds." Und später schickte er mich hinaus in die Welt: „Du hast alles gelernt, was du hier lernen konntest. Jetzt musst du vor dein Publikum treten, verschwende nicht deine Zeit mit der Forschung im Labor, deine Zukunft liegt woanders."

Sie haben dann relativ früh mit Oxygène, das sich bis heute mehr als 18 Millionen Mal verkauft hat, und dem Nachfolger Equinoxe ihren Sound gefunden—und diesen trotz des großen Erfolgs nicht ängstlich beibehalten, sondern mit einem Album wie Waiting for Cousteau den experimentellen Bruch gesucht. Fiel Ihnen das leicht?
Das kam sehr natürlich zustande. Für mich ist Erfolg das Ergebnis von Fehlern, die der Künstler in seinem Leben macht. Das Leben ist ein Auf und Ab, und ich möchte alles davon erleben. Da wären wir wieder bei der Neugierde. Drei Elemente beeinflussen die Kreativität eines Künsters: die Unschuld, die Sehnsucht und die Neugierde. Die Unschuld hält uns frisch. Die Sehnsucht bringt den unartigen Jungen in mir hervor, der Dinge ausprobieren will. Und die Neugierde lässt mich immer wieder aufs Neue wie ein Anfänger agieren.

Wir haben es schon angesprochen, für „ELECTRONICA 1: The Time Machine" haben sie auch mit Edgar Froese von Tangerine Dream zusammengearbeitet, der kurze Zeit danach verstorben ist. Wie fühlt sich der gemeinsame Song jetzt beim Hören für Sie an?
Seltsam. Ich denke mir jetzt, dass ich bereits 20 Jahre früher zu ihm hätte reisen sollen. Das Stück fühlt sich für mich zwischen den Welten liegend an, ganz so, als ob es vorwegnimmt, was danach passiert ist. Das Album ist ihm gewidmet, die Musik verbindet uns über die Grenzen von Zeit hinweg. Musik kennt keine zeitliche Beschränkung.

Denken Sie viel über die Unendlichkeit ihres Musik nach?
Nein. Man muss die Taktung der Zeit vergessen, um Unvergänglichkeit zu erreichen.

Mr. Jarre, ich bedanke mich für das Gespräch.