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Hört auf, unsere Subkulturen zu ruinieren

Promis wie Rihanna und Marken wie Topshop werden immer besser darin, Jugendkulturen das Leben auszusaugen.
Ghe20 G0th1k-Erfinderin Venus X in Wien.Foto: © VICE

Wie würdest du reagieren, wenn Paul Jahnke auf deiner Clubveranstaltung auftauchen würde? Würdest du die Security beauftragen, seinen blonden Kopf direkt wieder durch den Notausgang hinauszubefördern? Würdest du bei Vine ein Video von ihm, dir, Olli Pocher, Micaela Schäfer, Melanie Müller und Beelzebub posten, in dem ihr Champagner im VIP-Bereich schlürft? Würdest du ihn einfach ignorieren? Oder würdest du den ehemaligen Bachelor auf Twitter beschimpfen und behaupten, dass sein Interesse an deiner ‚Sache' ein Angriff auf deine persönliche Marke ist und deine Partyreihe sofort dicht machen?

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Manchmal ist es schwer zu wissen, wie man sich verhalten soll, wenn andere Leute auf etwas aufspringen, das du ans Laufen gebracht hast. Venus X hatte kürzlich dieses Problem. Die Veranstalterin bzw. DJ bzw. Fashionista aus New York findet, dass die Vereinnahmung ihrer persönlichen Marke sehr ernst genommen werden muss. So ernst, dass sie, nachdem Rihanna unverhohlen den Style ihrer ‚Ghe20 G0th1k'-Clubnacht für ein paar Instagram-Fotos abgekupfert hat—denk an Piercings, Bandanas und Unmengen von Schwarz; also im Prinzip alles, was dich aussehen lässt, als würdest du Leute auf der Straße angreifen und dann nach Hause gehen um The Cure zu hören—bei Twitter auf RiRi eingehauen und den Popstar beschuldigt hat, auf den Ghetto Goth-Zug aufgesprungen zu sein, ohne „einen politischen Anhaltspunkt" zu haben und eine „dumme Sexsklaven-Schlampe der Industrie" zu sein.

I work so hard for some dumb industry sex slave bitch to come collect all the coins and credit for my brand? @rihanna #ghettogoth

— VENUS X (@VENUSXGG)

May 12, 2014

I will not be throwing any more #ghettogoth parties or djing. @rihanna thank you for teaching me a lesson. GOODBYE WORLD

— VENUS X (@VENUSXGG)

May 12, 2014

Das scheint oberflächlich betrachtet ein ziemlich dämlicher Streit zu sein. Ich meine, wenn Venus dadurch, dass Rihanna ein Halsband und ein Netzhemd trägt, dazu verleitet wird, ihre Veranstaltung einzustellen, dann hätte Dani Filth wahrscheinlich genügend Gründe, Venus X nach Den Haag zu schleifen. Und die Frage, ob Venus wirklich so viel über Promis herziehen sollte, nachdem sie selbst in A$APs Video zu „Peso" mitgemacht hat, sei den Kommentarspalten bei Gawker überlassen. Aber der Zwist weist zumindest auf eine Unterteilung zwischen denen hin, die sich selbst als ‚Underground' bezeichnen und den Leuten, die dem Underground das Blut aussaugen, um im Rampenlicht zu bleiben.

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Es ist nun leicht, sich über Venus lustig zu machen: Sie nimmt sich selbst viel, viel zu ernst. Aber vielleicht hat sie einfach einen Nerv getroffen. In den letzten Jahren konnten wir verfolgen wie Katy Perry zum Seapunk wird, Oliver Pocher ‚Clubmusik' macht, Normcore zur Norm wird, Britney Dubstep macht, Taylor Dubstep macht, Ellie Dubstep macht, in Amerika alle EDM hören und OFWGKTA eine ASOS-Kollektion rausbringen. Stell dir eine Subkukltur vor, von der du denkst, dass sie derzeit cool ist—oder, falls du denkt, dass nichts cool ist, stell dir einfach irgendeine Szene vor, die im Mainstream im Moment noch nicht präsent ist, so wie Club Mate oder Jutebeutel. Stell sie dir vor und denk dann daran, was passieren wird, wenn jemand, den deine Mutter gut findet, daherkommt, diese Szene ausschlachtet und anfängt sich in Samstagabend-Unterhaltungsshows damit zu schmücken wie eine Raubwanze der Jugendkultur. Und anschließend überdenk noch einmal deine Position gegenüber der Aufregung um Venus X.

Apparently @Eonline TV & @necolebitchie both credit @rihanna for starting a new trend called #ghettogoth #5yrslate pic.twitter.com/fSy49BC3bs

— VENUS X (@VENUSXGG)

May 12, 2014

Offensichtlich hat der Mainstream das schon immer getan, nur hat der Prozess früher nur ein bisschen länger gedauert. Früher hatte eine Szene, ein Look oder ein Sound die Zeit, zu einer Bewegung zu werden. Wenn dann Firmen und Prominente auf den Trichter kamen, haben alle schon wieder darüber gelacht, wie veraltet das Ganze doch sei und dass der Mainstream nie schnell genug auf solche Sachen aufmerksam werde, weil der Mainstream grundsätzlich lahm ist.

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Aber heutzutage ist der Mainstream schnell genug—was scheiße ist, weil er im Prinzip immer noch lahm, oder eher ‚lame' ist. Szenen, Sounds und Subkulturen haben es kaum über das Embryostadium hinausgeschafft, schon werden sie von den Leuten mit dem großen Geld vereinnahmt und korrumpiert. Das ist zum Teil die Schuld einer sprießenden Branche geldgieriger Kultur-Fledderer und ihrer Kollaborateure: den Trendforschern, Markenberaten, Hype-Suchern. Den mächtigen Beratern der Coolness, die ihren geldgeilen Bossen ins Ohr flüstern: „Angel Haze ist gerade total angesagt." Dieser Typ mit der Ledermütze, der dich gefragt hat, woher du deine Turnschuhe hast? Der ist wahrscheinlich einer von denen.

Meistens arbeiten diese Leute für Firmen, die natürlich verzweifelt wollen, dass ihr Energydrink, ihre Jeans, ihr neues Bier für immer mit dem ‚Sommer des Seapunk' oder so assoziiert wird. Aber genau wie Unternehmen haben auch Promis Leute, deren Job es ist, ihre Ohren offen zu halten: die Stylisten, die Koksdealer, die professionellen besten Freunde. Die Leute, die die Drecksarbeit dafür machen, dass Miley sich wie jedes Mädchen im Berghain anziehen kann, während sie beim Bambi Party macht. Oder dass Katy Perry für ihren Ruf vorgeben kann, Riff-Raff zu daten, während sie in Wahrheit den Blues- und Soul-Musiker John Mayer für alles andere datet.

Schon oft sind die Mainstream-Appropriation des Undergrounds peinlich und zerstörerisch gewesen. Aber als sich Billy Joel entschied, New Wave zu machen oder als Garth Brooks zu Trent Reznor wurde, haben sie ihm wirklich geschadet. Die echten Köpfe gaben bekannt, dass Vogueing sowieso fast vorbei war, als Madonna sich dessen angenommen hat und Robbie Williams wäre—so sehr er es auch über Dizzee versucht hat—nie bei Lord of the Mics gelandet. Solche Sachen bedeuteten früher das Ende einer Szene, den absoluten Tiefpunkt, der Moment an dem wir alle mit unserem Leben weitermachen und etwas anderes finden mussten, das ähnlich spannend war; eine neue Gang, der wir angehören konnten. Jetzt wird es bei Miley Cyrus einfach hingenommen, dass sie über Nacht zu einem von Drogen benebelten Sexvamp wird—warum? Weil sie gesagt hat, dass sie das ist.

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THUMP Ghe20 G0th1k Venus X Rihanna Foto VICE

Vielleicht müssen wir unsere Szenen ein bisschen ernster nehmen und sie vor den Trittbrettfahrern schützen. Denn es ist Integrität, nicht Geld, die unsere Subkulturen davon abhält, tiefer in den Abgrund zu stürzen. Es ist einfach, unser mangelndes Interesse an der Wahrung unserer Subkulturen mit einem halbherzigen Verweis auf den Post-Modernismus zu entschuldigen. Oder indem wir das alles als apolitisch verschleiern oder uns selbst sagen: „Das ist einfach ein Dolce Vita-Ding; ich genieße den Wahnsinn, Oliver Pocher zu EDM abgehen zu sehen." Aber diese Denke hat unseren Subkulturen großen Schaden zugefügt und die Abwesenheit von Ort und Unterschieden gefördert, die jungen Identitäten etwas Abseitiges näher bringt—und damit unsere Generation ein bisschen verrückt gemacht. Es ist schwer, an etwas zu glauben, wenn es dir sechs Monate später in verdünnter Form erneut vorgesetzt wird, diesmal platziert über dem Kopf von Wilson Gonzalez Ochsenknecht auf einem Werbeplakat in Berlin-Mitte.

Für Leute wie Venus X ist das ein zweischneidiges Schwert. Unterstützung von Leuten wie Rihanna—oder zumindest seitens ihrer Stylisten—kann helfen, mit dem was du tust tatsächlich Geld zu verdienen—was für die meisten nicht unwichtig ist. Oder wie Venus es selbst in einem ihrer Tweets sagte: „Ich habe so hart gearbeitet, nur damit irgendeine dumme Sexsklavin der Industrie ankommt und all den Lohn und das Ansehen meiner Arbeit klaut?" Ich vermute es geht alles auf die alte Frage zurück: Ist es besser sich zu verkaufen oder sich abzocken zu lassen?

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Es ist hier vielleicht hilfreich, jemanden wie Juicy J, der durch seine Arbeit mit Pop-Künstlern zu dubiosem, spätem Ruhm gekommen ist, mit jemandem wie Lil B zu vergleichen. Ja, Lil B hat eine Menge furchtbarer Songs gemacht und noch mehr schlechte Karriereentscheidungen getroffen. Aber ob nun durch Zufall oder Kalkül, hat ihm das geholfen, eine Art Außenseitertum zu pflegen. Für die meisten Leute—zumindest aus meiner Erfahrung—macht es das leichter, wirklich zu lieben was du machst. Wohingegen Juicy J jetzt genau was ist? Ein Trap-House-Spaßvogel? Ein schlechter Scherz? Der neue Flava Flav? Es ist schwer zu sagen, ob Venus X mutig oder arrogant ist, oder ob sie Rihanna einfach nur wirklich hasst. Wir wissen nicht, ob sie sich verkauft hätte, wenn sie sich vorher nicht hätte abzocken lassen. Aber vielleicht sollten wir uns nicht so voreilig über ihre Inanspruchnahme von ‚Ghetto Goth' lustig machen—selbst wenn ihrem Verhalten Integrität fehlt, bleibt im Herzen eine gewisse Individualität. Ein Bewusstsein dafür, dass eine Szene vielleicht mehr als die Summe ihrer Ästhetik ist und dass du—selbst wenn du identifizieren kannst, wie etwas aussieht und es über ein paar Seiten in einem Modebuch verteilen kannst—nie in der Lage sein wirst, die unsichtbaren Teile zu repräsentieren: die Erinnerungen, die Motive, die Seele.

In einer Welt, in der die Korruption, Inbesitznahme und systematische Plünderung von allem Neuen oder Jungen nur ein Teil der kulturellen Nahrungskette ist, scheint Rihanna zu sagen, dass sie sich verpissen soll, vielleicht ein mutiger, aber wahrscheinlich sehr dämlicher Schritt zu sein. Da Promis immer präziser und Marken immer besser darin werden, Jugendkulturen das Leben auszusaugen, ist es schwer zu sagen, wie eine weitere Dezimierung vermieden werden kann. Um es im Sinne von Withnail & I auszudrücken, der ultimativen Erzählung über den Tod einer Szene: „Die verkaufen Five-Panel-Caps bei Topshop, Alter."

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Clive ist seine eigene Subkultur. Folgt ihm auf Twitter: @thugclive

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