Wie ein Festival half, das Schicksal des polnischen Katowice zu wenden

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Wie ein Festival half, das Schicksal des polnischen Katowice zu wenden

Die Bergwerke stillgelegt, die Menschen arbeitslos, die Straßen verkommen. Doch mit dem Tauron Nowa Muzyka Katowice kam neue Hoffnung.

Es gab Zeiten, da war die Stille kein gutes Omen. Wenn du Bergarbeiter warst und der Kanarienvögel im Käfig neben dir verstummte, wusstest du: Hier wird es gleich eng, RAUS AUS DEM SCHACHT! Jahrhundertlang lauschten die Kumpel von Katowice so in den Berg hinein – und ihren kleinen Begleitern. Das Gehör schärfte sich. Doch der Kontrast zwischen dem wunderschönen Gesang der Vögel und dem tödlichen Grollen einstützender Schächte konnte nicht größer sein.

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Das wichtigste Steinkohle-Bergwerk der polnischen Stadt Katowice hieß früher "Ferdinand". Zu seinen Glanzzeiten bestand der riesige Komplex aus 86 Gebäuden. 1823 wurde der Betrieb aufgenommen, im Juli 1999 kamen die letzten Arbeiter an die Oberfläche. Während der 176 Betriebsjahre wurden im Bergwerk über 120 Millionen Tonnen Kohle abgebaut.

Doch der Sound des Bergwerks, das Rauschen der Aufzüge, das Geklapper des Werkzeugs und der gedämpfte Feierabendlärm sind bis heute geblieben.

Es ist Nacht in Katowice. Ein rhythmisch-träger Wumms bringt die über dem alten Schacht emporragende Stahlkonstruktion zum Schwingen. Das mechanische Rattern hallt von den umliegenden Ziegelgebäuden wider. Frühen waren sie Lager- und Pausenräume für die Kumpel. Die Leute sprechen leise, versuchen, die anderen in Musik Versunkenen nicht zu stören. Es ist eher ein Wanken denn ein Tanzen mit dem man versucht, dem Rhythmus zu halten, während Darren J. Cunnigham alias Access sein Set spielt.


Die Zuschauer erinnern überhaupt nicht an die abgearbeiteten Bergleute. Das Werk wurde nach Jahren der Arbeitslosigkeit revitalisiert, dient heute als Museum und Konzertsaal. Die Industrielandschaft hier im Stadtteil Bogucice hat sich derweil nicht geändert. Gleiches gilt für die sonorische und mechanische Audiosphäre, die die Leute begrüßt, wenn sie auf das Festival zulaufen. Nur etwas ordentlicher ist alles geworden.

"Das soll Musik sein?", fragt mich der Security am Eingang zum Presseamt. "Klar. Elektronische, Zeitgenössische oder sogar Futuristische!", antworte ich eilig. "Aber auf jeden Fall ist es Musik – neue Musik, wie das Festivalteam sie nennt." Dann muss ich dringend weiter. Noch im Vorbeigehen antwortet er: "Für mich bedeutet Musik Melodie und hier höre ich vor allem Rhythmus. Aber eines will ich Ihnen sagen: Irgendwie passt es hier … auf diesen Halden, unter den Schächten."

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Ich muss lächeln.

"Das soll Musik sein?", fragt mich der Security. "Für mich bedeutet Musik Melodie und hier höre ich vor allem Rhythmus. Aber irgendwie passt es hier … auf diesen Halden, unter den Schächten."

Denn wenn sogar ein fünfzigjähriger Einwohner von Schlesien, der wohl höchstens Pop-Lieder aus dem Radio mag, diese musikalisch-architektonische Beziehung zu schätzen weiß, dann kann es für die Gäste des Festivals Tauron Nowa Muzyka Katowice keinen besseren Raum zum Hören dieser eklektischen, elektronischen Strukturen geben. Keinen besseren zumindest als jenes Ex-Bergwerk zu dem sie seit Jahren jeden Sommer pilgern.

Übrigens erinnere ich mich daran, dass ich vor vielen Jahren eine Zigarette mit Dylan Richards rauchte, als er beim Festival sein Projekt King Cannibal vorstellte. Der Ninja Tune-Künstler fragte mich, ob die Organisatoren des Festivals nicht viel zu viel Geld für den Bau der Metallkonstruktionen ausgaben. Die würden doch so gut mit der hier gespielten Musik harmonieren. Nein, sie gaben überhaupt nicht zu viel aus. Nicht einmal einen Cent! Denn die Anlagen der Schächte "Warszawa" und "Bartosz" existieren seit Jahrzehnten. Das Festivalteam hebt nur ihre (post-)industrielle Schönheit hervor. Damit erinnert das Tauron Nowa Muzyka Katowice programmatisch wie atmosphärisch an ein anderes großes Festival: das Melt!.

Doch Schlesien ist nie das wichtigste Zentrum der polnischen elektronischen Musik gewesen.

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Straßenszene in Katowice

Es war das Tauron Nowa Muzyka Katowice, das die Vereinigung von Schlesiens postindustriellen Räumen mit elektronischer Musik begann. Katowice war damals eine arme, dreckige, zerstörte Stadt mit einem legendären Bahnhof, den man nur als "Brutal" kannte.

Zwar gab es hier auch ein paar Künstler, die auf der Suche nach ihrer eigenen Ausdrucksform in Synthese und Automatik waren. Aber außer ein paar Einzelnen wurde hier niemand Teil von Techno, Jungle oder eine anderen zeitgenössischen Clubmusik-Massenbewegung. Zu den Zeiten, als die Stadt Łódź der wichtigste Punkt der polnischen Drum'n'Bass-Szene war, Sopot als Ausgangspunkt nach Goa diente und Warschau eine House-Festung war, konnte man in der Agglomeration um Katowice stattdessen immer noch Musikeinflüsse vom Blues der Siebziger, Hip Hop der Neunziger und Jazz der Katowicer Musikakademie hören.

Die bei Journalisten (wie mir) beliebte Verbindung zwischen einer industriellen Landschaft einerseits und ihren elektronischen Musikspiegelungen andererseits sind hier nicht so offenkundig wie etwa in Detroit oder stillgelegten Berliner Kraftwerken. Und das obwohl es heute das Biuro Dźwięku Katowice (Klangbüro Katowice) gibt; obwohl der Produzent und DJ Chino hier seine technoiden Strukturen bildet; und obwohl die nächsten Auflagen der Partyreihe ElektroKlub immer mehr Fans anziehen. Jahrelang war allerdings der Jazzclub Hipnoza der wichtigste Treffpunkt der Szene. Er diente seit seinen Anfängen auch als Mekka für die polnischen Fans von Ninja Tune. Den Nachklang davon kannst du immer noch in den Line-Ups des Tauron Nowa Muzyka Katowice hören, sind Club und Festival doch seit jeher eng miteinander verbunden.

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Und es war das Tauron Nowa Muzyka Katowice, das die Vereinigung von schlesischen postindustriellen Räumen mit elektronischen Rhythmen vor zwölf Jahren begann, indem man Swayzak, Christian Vogel und DJ Krush zum Auftritt in dem verlassenen und vor kurzem revitalisierten Schacht "Wilson" einlud. Katowice sah damals ganz anders aus. Es war eine arme, dreckige, zerstörte Stadt mit einem legendären Bahnhof, den man nur als "Brutal" kannte. Die modernisierte Regionshauptstadt voller Grünanlagen von heute war noch Zukunftsmusik.

Doch unabhängig davon, ob die Ziegelmiethäuser renoviert sind oder nicht, ob die Metallträger verrostet sind oder im Rampenlicht glänzen, ob in Trümmern Kiespfade abgesteckt sind oder ob man durch Schlamm und Dickicht vordringen muss: Im Bergwerk von Katowice klangen das Quietschen des Synthesizers und die Basswellen des BAS-Lautsprechers immer völlig anders als irgendwo sonst in der Welt.

Video: So war es 2016 beim Festival

Anders etwa, wie beim aufgeregt-mechanischen Auftritt von Flying Lotus beim Tauron Nowa Muzyka Katowice 2009. Oder wie 2010, als King Midas Sound extram laut spielte. Oder wie ein Jahr später, als Amon Tobin sein spektakuläres Mappingprojekt ISAM nach Katowice brachte. Jedes Mal überragten die Musiker die beleuchteten Türme der Schächte, die Ziegelmauern der Lager und die vollen Halden. Gleichzeitig sorgten eben diese Bauhistorie für die besondere Akustik des Festivals.

Neue Musik sucht. Sie sucht neue Orte, wo sie ausklingen kann – seien es leere Fabriken in Detroit, wilde Gebiete auf Ibiza oder besetzte Miethäuser in Ostberlin. Eben dort klingt sie am besten. Egal, ob sie Techno, House, Jungle, Dubstep oder wie auch immer genannt wird. Wichtig ist, dass sie mindestens diese vier Tage im Jahr spielt, wenn in Katowice wieder das Tauron Nowa Muzyka Katowice beginnt.

2017 findet das Tauron Nowa Muzyka Katowice vom 6. bis 9. Juli zum zwölften Mal statt. In diesem Jahr spielen u.a. Rósín Murphy, Cat Power, Avalon Emerson, Paula Temple, Herclues & Love Affair und Ho99o9. Alle weiteren Infos und den Ticketshop findest du auf der Webseite des Festivals.

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