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"Social Eating", ein Trend, bei dem Mahlzeiten live gestreamt werden, erscheint mir genau deshalb wie blanker Psychoterror. Versteht mich nicht falsch—für jemanden, dem die Gesellschaft seiner Katze nicht ausreicht, kann das vielleicht ganz beruhigend sein. Aber einer völlig fremden Person dabei zuzusehen, wie sie sich durch die halbe Speisekarte von Crazy Noodles frisst—excuse my french—, und dabei auch noch wie ein Höhlenmensch in ein Mikrofon schmatzt, das ist pure Folter.So ganz erklären kann ich mir diese starke Aversion nicht, weshalb ich zunächst mal versucht habe, mich selbst dabei zu beobachten, wie ich Menschen beim Essen beobachte. Und da war es dann plötzlich, mein schlechtes Gewissen. Diese Wut, die ich spüre, sie geht—glaube ich zumindest—weniger gegen schlechte Tischmanieren und Essengeräusche als gegen dich selbst. Dich und die Gaumenfreuden, die dir ins Gesicht geschrieben stehen. Es macht mich aggressiv, dich so sorglos zu sehen. Deine Heiterkeit macht mich missgünstig. Deine Völlerei ekelt mich an.So, jetzt könnte das natürlich was Katholisches sein. Also befrage ich lieber mal Google, rein prophylaktisch. Neben einer Flut von Texten über die bereits erwähnte Misophonie tauschen sich vermeintlich Gleichgesinnte in Ernährungs-Foren darüber aus, wie frustrierend es für sie sei, anderen Leuten beim Essen zusehen zu müssen. Wie schlimm es sei, wenn jemand vor ihren Augen ein Stück Sachertorte verschlingt, das ihnen nicht zusteht. Der springende Punkt ist, die meisten der User leiden an Essstörungen. Ich nicht. Glaube ich zumindest. Weiß ich.
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Meine Mutter ist der Überzeugung, ich hätte als Kind durch die schlechten Tischmanieren älterer Menschen einen Schaden davongetragen. Ältere Menschen, die ihre Frittatensuppe ausschlürfen wie eine Auster, mit vollem Mund sprechen, das Schnitzel als Ganzes reinstopfen und immer noch ein kleines bisschen Soße am Kinn kleben haben. Deshalb würde ich heute wohl etwas sensibler reagieren, glaubt sie. Klingt zumindest nicht ganz so weit hergeholt.Trotzdem will ich mich nicht mit Erklärungen zufrieden geben, die auf Bulimie, Misophonie oder Mamas Küchenpsychologie gründen, also schildere ich mein Problem Elisabeth Terzieff, Ernährungswissenschafterin und Gesundheitspsychologin in Mödling. Ich erwähne gleich zu Beginn die Sache mit der Missgunst, weil ich tief in mir drin ohnehin schon weiß, dass da der Hund begraben liegt. Ich muss es nur aus einem Expertenmund hören."Gönnen Sie sich denn selbst manchmal was?", fragt mich Terzieff. Ich bleibe stumm, fühle mich ertappt und glaube, sie weiß genau, dass sie gerade mitten ins Schwarze getroffen hat. Weil ich mir offenbar selbst nichts gönnen kann, bin ich neidisch auf die, die das können. Die Wurzel dessen sei in jedem Fall individuell näher zu betrachten, das könne man nicht generell definieren, aber immerhin weiß ich jetzt, wo ich anpacken muss: Mehr gönnen. Hart. Mir selbst, und dann vielleicht auch irgendwann den anderen.Franz auf Twitter: @FranzLichtMUNCHIES: Wie es ist, übergewichtig zu sein und trotzdem an Anorexie zu leiden