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Massenpanik

Prozess um die Love Parade: Frank hat damals knapp überlebt

"Die Massen waren weg, aber um uns herum lagen Leichen. Es war das schlimmste Erlebnis meines Lebens. Für mich tragen sie alle die Schuld: Polizei, Veranstalter und die Stadt Duisburg."
Foto: imago | Gerhard Leber

Wer ist schuld an dem, was im Juli 2010 auf der Love Parade passiert ist? Die Reaktion der Verantwortlichen lautete vor allem: ich nicht. Das Innenministerium entlastet sich selbst und die Polizei mit mehreren Berichten, die Stadt Duisburg ließ ein Unschuldsgutachten drucken und die Orga-Firma stellte mehrere Stunden Videomaterial zur eigenen Entlastung ins Netz. Fakt ist: 21 Menschen sind gestorben und niemand will zugeben, dass er Fehler gemacht hat. Damit sind sie fast sieben Jahre durchgekommen. Seit gestern ist klar: Es wird einen Strafprozess geben. Sieben Jahre danach. Angeklagt sind Mitarbeiter der Stadt und des Veranstalters.

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Schon vor knapp drei Jahren gab es eine Anklage der Staatsanwaltschaft: gegen sechs Mitarbeiter der Stadt und vier Angestellte des Veranstalters. Die Anklageschrift von 2014 umfasste 556 Seiten, die Staatsanwaltschaft bezog sich dabei auf einen Report von Keith Still, Professor für "Crowd Science" der Uni Manchester, von dem es hier eine deutsche Übersetzung gibt. Darin stand, "Planungs- und Genehmigungsfehler" seien der Grund dafür, dass Menschen totgetrampelt oder zerquetscht wurden. Statt ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung zu eröffnen, legte das Landgericht Duisburg einen Nichtveröffnungsbeschluss vor. Darin stand: Die vorgelegten Beweise seien nicht ausreichend für eine eventuelle Verurteilung. Das heißt, niemand wird verurteilt. Niemand muss sich schuldig nennen.

Diese Meinung teilt das Oberlandesgericht Düsseldorf nicht und sagte jetzt: doch. "Der Senat hält die Verurteilung der Angeklagten für hinreichend wahrscheinlich", bestätigte Anne-José Paulsen, Präsidentin des Oberlandesgerichts Düsseldorf, bei einer Pressekonferenz am Montag.

Frank, 26, Soziologie-Student, war damals vor Ort. Frank ist einer von 200.000 Menschen, die zum Zeitpunkt der Massenpanik auf dem Gelände der Love Parade waren. Doch auch Zehntausende Erfahrungsberichte werden nicht ersetzen, was ein Gerichtsurteil kann: eine Rekonstruktion der Fehler im Vorfeld und an diesem Tag, damit endlich Klarheit herrscht. Frank sagt, er habe mit der Schuldfrage abgeschlossen, ihm bedeute sie nichts mehr. Vielen anderen schon. Was es für die Angehörigen der Opfer heißt, dass es jetzt zum Prozess kommen soll, lest ihr auf Thump.

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Bild: privat

Hier lest ihr, wie Frank den Tag erlebte – und überlebte:

In diesem Tunnel in Duisburg brach die Massenpanik aus | Foto: imago | Ina Fassbender

"Wir kamen an und wollten auf das Gelände, dafür mussten wir durch einen Tunnel. Dort war ein riesen Gedränge, und es wurde immer voller und voller. Ich war mit fünf Kumpels unterwegs, schon im Tunnel verloren wir uns. Die Massen drückten, es ging langsam voran. Direkt nach dem Tunnel war dieser Ort, den man heute noch auf den ganzen Bildern und Videos sieht. Eine kleine Treppe führte rechts hoch. Dort habe ich realisiert, dass ich nicht mehr einfach rauskomme. Um den ganzen Platz standen Bauzäune. Dahinter standen Typen, ich weiß nicht, ob von einer Security-Firma oder von der Polizei, und die haben die Zäune nicht aufgemacht. Das wäre so nötig gewesen. Es war so eng, dass man sich noch nicht mal an den Fuß greifen konnte.

Dann sah ich eine Person auf dem Boden liegen. Höchstens zwei Meter von mir entfernt. Die Leute wollten helfen, sich bücken, aber es ging einfach nicht. Und die Zäune blieben zu. Hier habe ich gemerkt, dass es kein normales Gedränge mehr war.

Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, wie ich geschrien habe: 'Ich muss hier raus.' Eine Frau ein paar Meter weiter am Rand hat das mitbekommen und nach Leuten geschrien, die helfen sollen, weil da gerade noch einer abklappt. Ab da war ich weg. Ich weiß nichts mehr. Zu mir gekommen bin ich wieder an einem Bauzaun, der war dann umgekippt, die Massen waren weg und ich saß da am Rand. Ich war komplett nassgeschwitzt, als wäre ich in einen Pool gefallen. Einer meiner Kumpel saß neben mir. Ich weiß bis heute nicht: Wurde ich rausgezogen? Hat mich wer gerettet? Am Zaun sitzend habe ich dann erstmal geweint, später kamen Sanitäter und haben Wasser verteilt. Die Massen waren weg, aber um uns herum lagen abgedeckte Menschenkörper. Das waren die Leichen. Es war das schlimmste Erlebnis meines Lebens.

Was ich zur Schuldfrage denke? Seit Anfang an schachern sich die drei Parteien – Polizei, Veranstalter und die Stadt Duisburg – den Schwarzen Peter zu. Für mich tragen sie alle die Schuld. Da mein Freund seine Verletzungen angezeigt hat, wurde ich als Zeuge von der Polizei vorgeladen. Befragt haben mich Polizisten aus meinem Heimatort, einer Kleinstadt im Münsterland. Die haben mich dann im Ernst gefragt, warum ich nicht links die Rampe hochgegangen wäre, da wäre ja genug Platz gewesen. Ich habe keine Rampe gesehen und weiß auch von niemandem, der sich darüber retten konnte. Seitdem habe ich mit dem Thema abgeschlossen."

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