Wie Raven mir hilft, mit meiner Depression umzugehen
Illustration von Olivia Leclair

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Wie Raven mir hilft, mit meiner Depression umzugehen

Eine Reise nach Berlin setzte die Linderung einer Krankheit voller Widersprüche in Gang.

Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP US erschienen

Im Herbst meines ersten College-Jahres starb unerwartet mein Großvater. Was als nachvollziehbare, durch reale Geschehnisse ausgelöste Trauer anfing, entwickelte sich durch Umweltfaktoren und meine eigenen psychologischen Unzulänglichkeiten zu einer tiefgreifenden Depression, die überall und nirgends ihren Ursprung hatte.

Mein Kopf fühlte sich jeden Tag schwer an, so als würde mein Gehirn versuchen, sich durch meine Stirn den Weg aus meinem Schädel zu bahnen. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren und es schien alles unmöglich zu sein. Einfache Entscheidungen, wie die, wann ich in die Mensa gehe, um möglichst wenig menschlichen Kontakt zu riskieren, waren kräftezehrend. Es war einfacher, nichts zu tun, als meine Entscheidung vielleicht zu bereuen und tiefer in das mentale schwarze Loch zu fallen. Ich war teilnahmslos gegenüber Dingen, die ich mal mochte, und die kleinsten Aufgaben lähmten mich.

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Ich trank bis zur Besinnungslosigkeit, um zu vergessen, warum ich mich überhaupt besinnungslos trinken wollte. Ich schlief den halben Tag, da Schlaf mich von meinen Gedanken befreite. Ich zeigte nur Einsatz und Energie, wenn es notwendig war, um meine Fassade der Normalität aufrechtzuerhalten, damit andere Leute sich nicht fragen, was nicht mit mir stimmt. Das konnte mein Ego nicht zulassen. Ich hatte nicht die mentale Stärke, um viel mehr zu machen, als im Bett zu bleiben und die Vorhänge zuzuziehen. Jedes Mal, wenn ich mein Zimmer verließ, hatte ich den plötzlichen Drang zu weinen. Ich wusste nicht warum.

Das ging Monate so. Während meiner restlichen College-Zeit und der ersten Zeit meines neuen Lebens in New York City – wo ich hinzog, nachdem ich das College gerade so geschafft hatte – hingen die dunklen Wolken der Depressionen weiter über mir. Manchmal lichteten sie sich, aber sie verschwanden nie ganz. Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben sich stets in irgendeinem Zustand des Auseinanderfallens befand. Entweder stand dies kurz bevor und ich war zu schwach und beschämt, um es aufzuhalten, oder es war bereits passiert.

Illustration: Imago/Lee Woodgate

Nach zwei Jahren in New York war meine Depression nicht mehr ganz so lähmend. Doch ich fühlte mich die ganze Zeit gestaltlos und erschöpft. Die Welt war eine verzerrte Version ihrer selbst. Ich sah eine tiefe Kluft zwischen mir und jedem, mit dem ich interagierte. Mitten im Gespräch fragte ich mich ängstlich, ob die andere Person die Depressionen von meinem Gesicht ablesen konnte, die ich so verzweifelt versuchte zu verstecken. Meine Emotionen glichen einem Gemälde von M.C. Escher, es ging irgendwie von Zeit zu Zeit aufwärts aber die meiste Zeit abwärts und blieb dabei flach und oberflächlich. Versuche, mich selbst zu behandeln – durch rauchen, Sport machen, gesundes Essen – brachten nur kurze und partielle Linderung.

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Ich dachte oft: "Ich muss hier weg". Ich war allerdings nicht sicher, ob "hier" die Stadt war oder mein Job oder mein Kopf oder etwas anderes. Also beschloss ich, das zu tun, was jeder privilegierte junge Mensch tut, der Before Sunrise gesehen hat, und mit scheinbar unlösbaren persönlichen Problemen konfrontiert wird: Ich reiste alleine nach Europa.

Bevor ich nach Berlin kam, war ich noch nie auf einem Rave gewesen. Das Wort "Clubbing" rief Erinnerungen daran hervor, vor Clubs in SoHo abgewiesen zu werden, weil ich die falschen Schuhe trug. Den Unterschied zwischen EDM, Techno und piepsenden Robotergeräuschen hätte ich dir auch nicht erklären können.

Doch als ich mich über das Berliner Nachtleben informierte, um meine Reise nicht "falsch" anzugehen, erfuhr ich von einem Ort namens Berghain. Ich wusste, dass die Atmosphäre dort offen und liberal war, dass Leute dort tanzten, es trieben und Drogen nahmen. Aber was hieß es schon für jemanden, der noch nicht mal in einem Club in Brooklyn war, Geschichten über das Berghain zu lesen? Wie beschreibt man jemandem den Sonnenuntergang, der noch nie einen gesehen hat?

Lithografie von M.C. Escher. Foto: Imago

Ich ging an einem Sonntagabend mit Freunden eines Freundes ins Berghain, die den Club in und auswendig kannten. Sie sagten mir, was ich anziehen sollte (schwarz), was ich in der Schlange machen sollte (gar nichts) und was ich sagen sollte, wenn der berüchtigte Türsteher mit Gesichtstattoo vor mir stand (auch nichts). Sie gaben mir zerbröselte Pillen und ich nahm sie hinter einem Müllcontainer hockend ein. Es störte mich nicht, zu offenbaren, dass ich das noch nie gemacht hatte. Ich wusste nicht, was mich erwartete, und es war mir egal. Ich wollte einfach etwas spüren, irgendwas, mit Intensität.

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Wir warteten eine Stunde in der Schlange. Dann waren wir drin. Acht Stunden später verließen meine drei Begleiter den Club. Acht Stunden später ging auch ich. Das Berghain hatte gerade zugemacht. Es war Montagmittag.

Nach 16 Stunden in Berlins verrücktem Techno-Tempel stolperte ich in ein raues, industrielles Brachland. Meine Augen kämpften mit der Müdigkeit und dem Sonnenlicht. Meine Füße und Hüften schmerzten vom Dauertanzen. Mein Mund fühlte sich an wie trockener Samt. Meine Kleidung stank nach Zigarettenrauch und war durchgeschwitzt. Mein Körper war durch und durch müde, zerstört. Doch ich fühlte mich unerwartet und erstaunlich lebendig. Mir tat alles weh und trotzdem nichts. Mein Kopf fühlte sich an wie eines dieser GIFs mit einem Zoom in Endlosschleife. Ich konnte nicht aufhören zu lachen. Ich fuhr zusammen mit adretten deutschen Schulkindern und anständig frisierten deutschen Geschäftsleuten in der U-Bahn zurück zur Wohnung meines Freundes. Ich legte den Kopf in meine Hände und grinste in meine schmutzigen Handflächen. Die Endorphine, die durch mich hindurch schossen, waren beinahe greifbar. Was zur Hölle war mit mir los? Mein emotionaler Zustand war mir fremd.

Wie andere Raver mich sahen, ob meine Hände Richtung Himmel zeigten oder mein Kopf zum Beat wackelte, war mir egal. In meinem Kopf gab es keinen Platz für störende Gedanken.

Zwei Abende später ging ich mit einem Freund in einen anderen Club. Ich war total nüchtern. Ich wollte wissen, ob das, was ich im und nach dem Berghain gefühlt hatte, das Ecstasy oder die Ekstase war.

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Minuten nachdem ich dieses verzweigte Techno-Labyrinth betreten hatte, wusste ich, dass es Letzteres war. Wie im Berghain zog mich die erbarmungslose, minimalistische, straighte Bassdrum direkt in ihren Bann: Bumm, bumm, bumm, bumm. Selbst in der Schlange vor der Toilette hüpfte ich von einem Fuß auf den anderen. Ich konnte nicht aufhören, mich zu bewegen – was einiges aussagte. In der Zeit, in der ich am depressivsten war, war ich penibel darauf bedacht, wie Leute mich wahrnahmen. Selbst auf gut gefüllten Dancefloors in New York war ich so auf mein Erscheinungsbild bedacht, dass ich mich in einen dissoziativen Zustand versetzen konnte, mich selbst von außen sah und mich für diesen Typen schämte, obwohl ich wusste, dass ich es bin. Doch hier hielt die stampfende, unaufhörliche Techno-Musik – die dystopischen, mechanischen Klänge über eine spärliche, präzise Bassdrum –meine Bewegungen aufrecht und vereinfachte mein Denken. Wie andere Raver mich sahen, ob meine Hände Richtung Himmel zeigten oder mein Kopf zum Beat wackelte, war mir egal. In meinem Kopf gab es keinen Platz für störende Gedanken. Als mein Freund den Club um acht Uhr morgens verließ, spürte ich ein transzendentales Hochgefühl.

Ich suchte in jeder Stadt, die ich anschließend besuchte, nach diesem Gefühl. In Amsterdam habe ich an einem Ort geraved, der aussah wie eine Kathedrale. Das war sinnbildlich, als würde Techno mich in spirituelle Sphären erheben. In London habe ich sieben Stunden lang nüchtern im Fabric getanzt. Der Club wurde nach seiner Schließung bereits mit Nachrufen bedacht, nur um Monate später nach einer Welle der öffentlichen Unterstützung wieder zu eröffnen. Das war ich, dachte ich – tot, dann durch Techno wiederbelebt.

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Techno schafft es immer, mich mit Leben zu füllen und mich aufzubauen.

Als ich zurück in New York war, fühlte ich mich wie eine Schaufensterpuppe. Mein Körper war anwesend, doch mein Kopf war noch auf der anderen Seite des Atlantiks. Ich fing an, Techno aus allen möglichen Genres zu hören. Dark Ambient Techno. Detroit Techno. Tech House. Aber Techno in der Bahn mit beschissenen Apple-Kopfhörern zu hören war ein schlechter Ersatz.

Also machte ich mich eines Sommers um drei Uhr nachts auf den Weg zu einer Warehouse-Party nach Bushwick. Die Scheiben der davor parkenden Autos vibrierten durch die Musik. Drinnen herrschte nichts anderes als ein Angriff auf die Sinne. Schweiß und Rauch vermischten sich in der heißen, durch Strobo erleuchteten Luft, die so dick war, dass das Publikum – Leute in allen Formen, Farben und Größen – bloß aus Silhouetten bestand. Die Musik war erdrückend laut, brachte meine Knochen zum rasseln und ließen mein Sichtfeld an den Rändern schwammig werden. Ich tanzte leidenschaftlich. Ich sprach mit niemandem und niemand sprach mit mir. Wieder fing ich an zu lachen.

Raving, früher nur ein Interesse meinerseits, ein Zeitvertreib, ist mittlerweile so fest in mir verankert wie ein grundlegendes Bedürfnis. Auf einfachster, zweckmäßigster Ebene hat es mir geholfen, meine Depressionen zu vergessen, und mir etwas gegeben, auf das ich mich immer wieder freue. In den Zeiten zwischen zwei Raves fühle ich mich matt. Angst und Schrecken steigen in mir auf; meine Gedanken werden wieder negativ: Was, wenn all meine Freunde dieses Wochenende zu tun haben? Was, wenn ich Pläne schmiede, aber es nicht aus dem Bett schaffe? Was, wenn? Aber dann verbringe ich Freitagnacht sechs Stunden damit, in einem feuchten, heruntergekommenen Gebäude zu tanzen, und fühle mich wieder belebt. Selbst wenn bei Twitter nichts los ist, das Fitnessstudio unerreichbar weit weg zu sein scheint und ich es nicht schaffe, mir einen stumpfsinnigen Film anzusehen; Techno schafft es immer, mich mit Leben zu füllen und mich aufzubauen.

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Depressionen geben dir das Gefühl, als wärest du ein nutzloser Versager, egal, was du tust. Doch Techno kann dich in einen wirklich lebhaften Zustand versetzen.

Depressionen sind eine Krankheit voller Widersprüche und Gegensätze. Du kannst nicht einschlafen, trotzdem schaffst du es nicht aus dem Bett. Du fürchtest die Nacht, wenn dein Gehirn sich um deine niedersten Emotionen dreht, trotzdem schätzt du die Dunkelheit, weil sie ein Versteck bietet. Du hast Angst vor dem, was morgen passieren wird, trotzdem bist du dir sicher, dass du dich nicht anders fühlen wirst. Du weißt, dass es total absurd ist, nicht aufstehen zu können, um dir eine Suppe zu machen oder auf eine Nachricht zu antworten, die du nur mit Ja oder Nein beantworten musst. Trotzdem bist du zu kraftlos, um den Anflug der Gefühle aufzuhalten, die dir sagen, dass du es gar nicht versuchen musst. Du machst dir Gedanken über dein Erscheinungsbild, trotzdem geht es immer mehr bergab damit. Deine Gedanken hängen entfernten Erinnerungen an Möglichkeiten nach, die du nicht wahrgenommen hast, trotzdem weißt du nicht mehr, warum du gerade einen Raum betreten hast. Du bist alleine, selbst wenn du von Menschen umgeben bist. Du wirst durch Abwesenheit definiert – von Energie, Motivation, Verständnis – und befindest dich doch in einer kompletten, lebhaften Welt.

Beim Raven fühle ich nichts davon. Es ist ein Antidepressivum. Es ist befreiend. Es gibt dir das Gefühl, dass du beschwingt und heiter bist. Du tanzt alleine, trotzdem fühlst du dich mit allen um dich herum verbunden – ein paradoxes, einsames Miteinander, bei der individuelle Persönlichkeiten verschwinden. Du findest Trost in der Gegenwart von Fremden. Depressionen geben dir das Gefühl, als wärest du ein nutzloser Versager, egal, was du tust. Doch Techno kann dich in einen wirklich lebhaften Zustand versetzen … egal, wo du es erlebst.

Als 2013 ich versucht habe, mir mit Büchern und Vorträgen meinen Weg aus der Depression zu bahnen, bin ich auf ein Zitat gestoßen. Ich habe es nicht verinnerlicht oder geglaubt, bis ich entdeckte, welches Gefühl das Raven zu Techno in mir auslösen kann. Es stammt von Andrew Solomon, einem Autor, der über Kunst und Psychologie schreibt und seit langem an Depressionen leidet: "Das Gegenteil einer Depression ist nicht Glück, sondern Lebenskraft."

Auch wenn unserem Autor Techno und Clubbing helfen, sollten Depressionen trotzdem psychologisch betreut werden. Falls du selbst unter Depressionen leidest, findest du hier Hilfe und Anlaufstellen in deiner Region.

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